Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Musikinstrumenten freizulegen, sichtbar werden zu lassen, seine Liniensystemeehrfurchtsvoll mit liebender, behutsam zarter Hand nachzuzeichnen, die so sicher war, daß der Ton sich jeden Augenblick änderte, sich verwischte, um einen Schatten anzudeuten, und sich von neuem belebte, wenn er einer kühner geführten Kontur auf der Spur bleiben wollte. Ein Beweis, daß Swann sich nicht täuschte, wenn er an die Existenz dieses Themas glaubte, war, daß jeder auch nur ein wenig empfindsame Musikliebhaber sofort den Betrug gemerkt hätte, wenn etwa Vinteuil in einem Nachlassen seines Vermögens, die Formen genau zu erkennen und nachzubilden, versucht hätte, hier und da etwas aus Eigenem hinzuzufügen, um die Lücken seiner Vision oder das Versagen der Hand zu verbergen.
Das Thema war verschwunden. Swann wußte, daß es am Schluß des letzten Satzes wiederkehren würde nach einer langen Passage, die Madame Verdurins Pianist immer übersprang. Es gab hier noch wundervolle Ideen, die Swann beim ersten Hören nicht erkannt hatte, sondern jetzt erst bemerkte, als hätten sie im Vorraum seiner Erinnerung die gleichförmige Verkleidung des Neuen abgelegt. Swann lauschte auf all die Einzelmotive, die schließlich in dem Thema zusammenfließen würden wie die Prämissen in einem notwendig sich ergebenden Schluß; er wohnte seinem Entstehen bei. Wahrlich, eine vielleicht ebenso geniale Kühnheit, sagte er sich, wie die eines Lavoisier, eines Ampère ist sie, die Kühnheit eines Vinteuil! Hat er nicht dank seiner Experimente die geheimen Gesetze einer unbekannten Kraft entdeckt und lenkt er nicht das unsichtbare Gespann, dem er sich anvertraut und das er niemals erblicken wird, durch das Unerforschte dem einzig möglichen Ziel entgegen? Welch einen schönen Dialog zwischen Klavier und Geige hörte Swann zu Beginn des letzten Stücks! Das Weglassen menschlicher Worte ließ die Phantasie mitnichten, wie man hätte glauben können, unbeschränktherrschen, sondern hatte sie ausgeschaltet; niemals noch war die gesprochene Rede so unbeugsam durch Notwendigkeit bestimmt, kannte sie in solchem Maße die Eindeutigkeit der Fragen, die Evidenz der Antworten darauf. Erst klagte das Klavier wie in Verlassenheit gleich einem Vogel, der seine Gefährtin vermißt; die Geige hörte und gab Antwort wie von einem benachbarten Baum. Es war wie am Anfang der Welt, als gäbe es noch nichts als diese beiden Wesen auf Erden, oder vielmehr in jener für alles andere verschlossenen, aus der Logik eines Schöpfers gebauten Welt, in der nur immer sie beide existieren würden, in der Welt nämlich dieser Sonate. 1 War es ein Vogel, war es die noch unfertige Seele des kleinen Themas, war es eine Fee, dieses unsichtbare seufzende Wesen, dessen Klage das Klavier dann so zärtlich eindringlich wiederholte? Seine Schmerzensrufe brachen so plötzlich hervor, daß der Geigenspieler eilends den Bogen ansetzen mußte, um sie aufzugreifen. Ein Zaubervogel! Der Geigenspieler schien ihn beschwören, bezähmen und einfangen zu wollen. Schon war er in seine Seele gedrungen, schon bewegte das heraufbeschworene kleine Thema den wahrhaft besessenen Leib des Violinisten wie den eines Mediums. Swann wußte, es werde noch einmal seine Stimme erheben. Und er war jetzt so deutlich in zwei Wesen geteilt, daß die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Augenblicks, wo er sich ihm gegenüber befinden würde, ihn in einem Schluchzen erschauern ließ wie ein schöner Vers oder eine traurige Nachricht; nicht wenn wir allein sind freilich, sondern wenn wir sie Freunden mitteilen, in denen wir uns erkennen wie einen anderen, dessen wahrscheinliche Rührung ihnen das Herz erweicht. Es kehrte zurück, doch diesmal nur, um in der Luft zu schweben und einen Augenblick lang wie unbeweglich zu kreisen und gleich darauf abzubrechen. So verlor denn Swannauch keinen Augenblick seines so kurzen Verweilens. Es schwebte noch wie eine irisierende Kugel, die sich selber trägt. Wie ein Regenbogen, dessen Leuchten immer schwächer wird, abklingt und dann vor dem völligen Verlöschen noch einmal einen Augenblick erblüht wie niemals zuvor, so fügte es zu den beiden bislang wahrnehmbaren Farben andere durchsichtige Stränge hinzu, alle Nuancen des Spektrums, und brachte sie zum Erklingen. Swann wagte nicht, sich zu rühren, und hätte auch die andern davon zurückhalten mögen, als könne die leiseste Bewegung den übernatürlichen, köstlichen und zerbrechlichen Zauber zerstören, der schon so nah am
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