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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Vergehen war. Tatsächlich dachte niemand daran, irgend etwas zu sagen. Die unsägliche Sprache eines einzigen Abwesenden, eines Toten vielleicht (Swann wußte nicht, ob Vinteuil noch lebte), schwebte über den Riten der Zelebrierenden und reichte aus, die Aufmerksamkeit von dreihundert Personen in Schach zu halten, und machte dieses Podium, auf dem eine Seele beschworen wurde, zu einem der edelsten Altäre, auf dem je eine magische Handlung vorgenommen worden ist. So daß, als das Thema schließlich in den darauffolgenden Motiven zerflatterte, die an seine Stelle traten, Swann, der im ersten Augenblick unangenehm berührt war, als er die Gräfin von Monteriender, die für ihre naiven Äußerungen bekannt war, sich zu ihm neigen sah, ihm ihre Eindrücke anzuvertrauen, bevor die Sonate noch beendet war, nicht anders konnte als lächeln und vielleicht auch in den Worten, die sie verwendete, einen tiefen Sinn fand, der ihr entging. In Staunen versetzt durch die Virtuosität der Spieler, rief die Gräfin zu Swann gewendet aus: »Das ist ja fabelhaft, ich habe niemals etwas so Starkes erlebt …« Aber ein Exaktheitsbedenken veranlaßte sie, zurückhaltender und gleichsam korrigierend hinzuzusetzen: »seit … seit dem Tischrücken damals!«
    Von diesem Abend an begriff Swann, daß Odettes Gefühle für ihn nicht wiederkehren, daß seine Hoffnungen auf Glück sich nicht mehr erfüllen würden. Und an den Tagen, wo sie zufällig noch einmal nett und zärtlich zu ihm war und ihm einige Aufmerksamkeit widmete, notierte er dann diese scheinbaren, trügerischen Zeichen einer leichten Rückwendung zu ihm mit jenem gerührten, aber skeptischen Eifer und der im Grunde verzweifelten Freude derjenigen, die bei der Pflege eines Freundes im letzten Stadium einer unheilbaren Krankheit als große Besonderheiten vermerken: »Gestern hat er selbst die Ausgaben nachgerechnet und uns sogar darauf aufmerksam gemacht, daß wir uns verrechnet hatten; er hat mit Appetit ein Ei gegessen, und wenn er es gut verträgt, soll er morgen ein Kotelett bekommen«, obwohl sie wissen, daß diese Dinge am Vorabend eines unvermeidlichen Todes keine Bedeutung mehr haben. Gewiß, Swann wußte, daß Odette ihm, hätte er jetzt fern von ihr gelebt, schließlich gleichgültig geworden wäre, so daß er sie mit einer Art von Erleichterung hätte Paris für immer verlassen sehen; er hätte dann die Kraft besessen zu bleiben; doch die, selbst zu gehen, hatte er nicht.
    Er hatte des öfteren daran gedacht. Jetzt, da er sich wieder an seine Vermeer-Studie gemacht hatte, hätte er allen Grund gehabt, wenigstens für ein paar Tage nach Den Haag, nach Dresden oder Braunschweig zu reisen. Er war überzeugt, daß eine Diana mit ihren Nymphen , die vom Mauritshuis auf der Versteigerung Goldschmidt als ein Nicolas Maes angekauft worden war, in Wirklichkeit von Vermeer stammte. 1 Er hätte gern das Bild an Ort und Stelle untersucht, um seine These zu stützen. Doch Paris verlassen, solange Odette da war, und selbst wenn sie abwesend wäre – denn an neuen Orten, wo die Empfindungen noch nicht durch die Gewohnheit abgeschwächt sind, verstärkt und belebt sich ein Schmerz –,war für ihn ein so grausames Vorhaben, daß er nur deshalb so unaufhörlich daran denken konnte, weil er ganz genau wußte, er werde es doch nicht tun. Es kam aber vor, daß ihm im Schlaf diese Absicht zu reisen wieder vor Augen trat – ohne daß er sich daran erinnerte, daß diese Reise unmöglich sei –, und im Traum verwirklichte sie sich auch. Eines Nachts träumte er, er verreise für ein Jahr; aus der Wagentür sich einem jungen Mann zuneigend, der auf dem Bahnsteig stand und ihm weinend Lebewohl sagte, suchte Swann ihn dafür zu gewinnen, daß er mit ihm reise. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Angst weckte ihn auf, er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß er ja gar nicht verreise, daß er Odette am gleichen Abend sehen werde, auch am folgenden und überhaupt beinahe jeden Tag. Da pries er in seinem Herzen, noch ganz unter dem Eindruck des Traums, die besonderen Umstände seines Lebens, die ihn unabhängig machten, dank denen er in Odettes Nähe bleiben und auch erreichen konnte, daß sie ihm gestattete, sie zuweilen zu sehen; und als er sich alle Vorteile seiner Situation einzeln vor Augen stellte – sein Vermögen, das sie oft nur allzusehr in Anspruch nehmen mußte, als daß sie nicht vor einem Bruch zurückgeschreckt wäre (wobei sie sogar, wie behauptet wurde, den Hintergedanken

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