Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
und des Zusammenfügens (»composer«) durchzieht die ganze Sequenz als Leitmotiv: Zusammenstellen einer Tafelrunde, eines Repertoires, eines Effektenfonds; Zubereiten eines Gerichts; Verfassen eines Textes.Die Krone gebührt an diesem Tag der Köchin (Françoise wird als »Michelangelo der Küche« bezeichnet), die mit ihrem Bœuf à la gelée vorführt, was ein Meisterwerk ist. Dem Triumph der Köchin steht der Mißerfolg des Romanhelden gegenüber. Weder gelingt es ihm, etwas zu schreiben, was er, wie sein Vater es wünscht, durch Vermittlung von Norpois in der Revue des Deux Mondes publizieren könnte, noch vermag er, fixiert auf seine falschen Erwartungen, zu erkennen, was die Kunst der Berma ausmacht. Offensichtlich geht es beim Diner mit Norpois nicht nur um einen gesellschaftlichen Anlaß oder um Kochrezepte, sondern auch um das Problem von Produktion und Rezeption von Kunstwerken. Während Françoise und Marcel als Beispiele für schöpferische Tätigkeit stehen, wird mit der Figur von Norpois der gesellschaftliche Kontext von Kunst ins Spiel gebracht. Norpois’ Rolle ist die eines Initiators und eines Kritikers. Seinen Ratschlägen hat es Marcel zu verdanken, daß er die Matinee mit der Berma besuchen und – wichtiger noch – eine literarische Karriere ins Auge fassen darf. Doch unter Literatur versteht Norpois nicht dasselbe wie Marcel. Das vernichtende, im Augenblick aber als Orakel angehörte Urteil des Ex-Diplomaten über Bergotte und über ein frühes Prosastück Marcels, das dem Gast mangels einer aktuelleren Talentprobe vorgelegt wird, macht den literarischen Hoffnungen des Romanhelden ein Ende. In Norpois’ überlegener Art, über alles und jedes zu urteilen, verbirgt sich eine Parodie des selbstsicheren Tons der Revue des Deux Mondes. Es wird sich später herausstellen, daß sein Urteil nur gerade im kulinarischen Bereich Bestand hat. Die ausführlichen Gespräche über das Haus Swann, in dem Norpois kürzlich zu Gast war, dienen dazu, das Diner mit Norpois mit dem Hauptstrang der Erzählung, nämlich dem am Ende von Swann unterbrochenen Bericht von Marcels Liebe zu Gilberte, zu verknüpfen.
Innerhalb des erzählerischen und thematischen Gefüges der Recherche ist diese Liebesgeschichte mit ihren aufeinanderfolgenden Phasen von Annäherung und Entfremdung eine Variation der im ersten Band erzählten Liebe Swanns zu Odette. Marcel tritt an die Stelle Swanns, Gilberte (die Tochter) an jeneOdettes (der Mutter). Es erstaunt nicht, daß das Pendel zurückschwingt und Marcel in dem Maße, wie er sich von Gilberte entfernt, tiefer in die Welt von Madame Swann eindringt.
Die Schilderung von Madame Swanns Salon nimmt die mit dem Familienkreis in Combray, dem Kreis der Verdurins und der Soiree bei der Marquise von Saint-Euverte in Swann begonnene satirische Analyse der Gesellschaft wieder auf. Jetzt sind die bei den Swanns verkehrenden bürgerlichen Regierungskreise an der Reihe.
Als ergänzendes und korrigierendes Gegenstück zum Abendessen mit Norpois in Marcels Elternhaus folgt ein Mittagessen mit Bergotte im Hause Swann. Bei dieser Gelegenheit trifft Marcel zum erstenmal mit dem seit langer Zeit bewunderten Dichter zusammen. Er sieht sich jedoch nicht dem Bergotte seiner Vorstellung gegenüber, dem sanften Barden mit wallendem weißen Haar, sondern einem jüngeren Mann mit einer krummen Nase und einem schwarzen Spitzbärtchen. Im Gespräch jedoch weicht die anfängliche Enttäuschung, besonders bei Bergottes Ausführungen über die Kunst der Berma; und als Marcel von Bergotte auch noch erfährt, Norpois sei ein Dummkopf, gewinnt er das Vertrauen in die Literatur und in seine eigene Sensibilität zurück. Diese nämlich bleibt ungerührt bei den von Norpois als literarisch hingestellten Themen (»Das Unendlichkeitsgefühl am Westufer des Viktoria-Sees« usw.), belebt sich aber, sobald sie den speziellen Akzent, die persönliche Stimme eines Dichters vernimmt oder von ganz bescheidenen Sinneseindrücken angeregt wird, beispielsweise von blühendem Weißdorn, drei Kirchtürmen im Abendlicht oder, wie es unmittelbar nach dem Diner mit Norpois geschieht, vom feucht-modrigen Geruch in einem Klosetthäuschen. Daß solche Eindrücke aber den speziellen Akzent eines Dichters bestimmen können und er gerade durch sie zum Dichter wird, erfährt Marcel erst in der Wiedergefundenen Zeit . Vorläufig werden sie wie alles andere vom Strom der verlorenen Zeit hinweggetragen.
Was die zeitgeschichtliche Situierung
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