Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
kontrollierten Kochvorgang der Geschmack des Rindfleischs und derjenige der Karotten verbinden, so entsteht in den Bildern Elstirs die Atmosphäre, die spezielle »Stimmung«, durch eine systematische Vertauschung von Meer und Land, ein Verfahren, das Proust mit der rhetorischen Figur der Metapher erläutert. Beim anderen Bild, einem Aquarell aus Elstirs Frühzeit, liegen die Bezüge zu Prousts Roman weniger auf der stilistischen Ebene als auf derjenigen der Thematik und der Handlung. Es ist das Porträt einer Schauspielerin in Männerkleidung, und es trägt die Inschrift »Miss Sacripant, Oktober 1872«. Seine zarten Töne, die aufreizende Haltung des Modells und der englische Name erinnern an die Episode mit der Dame in Rosa aus Swann , und tatsächlich handelt es sich bei der Porträtierten um Odette, bei dem Porträtisten aber (dem jetzigen Elstir) um jenen Monsieur Biche, dem man im kleinen Kreis der Verdurins bereits begegnet ist.
Daß die Malerei gerade an dieser Stelle der Recherche in den Vordergrund rückt, ist kein Zufall. Marcels Weg zum Künstlertum folgt einer von der idealistischen Ästhetik geprägten Hierarchie, die von den noch stark an die Materie gebundenen Künsten der Architektur und der Bildhauerei über die Malerei, die Schauspielkunst und die Musik zur Literatur führt. Die Kirche von Combray, das Portal von Saint-André-des-Champs in Swann sowie die mit Efeu überwucherte Kirche von Carqueville in den Jeunes filles stellen eine erste Stufe in Marcels ästhetischer Erfahrung dar. Der kindlich-magischen, Augustin Thierry und Ruskin verpflichteten Auffassung von mittelalterlicher Kunst, die Marcels Enttäuschung angesichts der Kirche von Balbec zugrunde liegt, stellt Proust das wissenschaftliche Verständnis eines Émile Mâle gegenüber, den er in den Ausführungen Elstirs über dieselbe Kirche zu Wort kommen läßt. In ähnlicher Weise wird im ersten Teil der Jeunes filles Marcels Enttäuschung über das Spiel der Berma durch die Worte Bergottes korrigiert. Bevor jedoch im folgenden Band der Recherche ( Guermantes ) die Erkenntnis vom Wesen der Schauspielkunst gelebte Erfahrung wird, dringt Marcel dank Elstirs Vermittlung in die Geheimnisse der Malerei ein.Als Proust im Laufe des Jahres 1912 verschiedenen Verlagen – Fasquelle, La Nouvelle Revue Française, Ollendorff und schließlich Grasset – seinen Roman anbot, bestand dieser aus zwei Bänden, »Le temps perdu« und »Le temps retrouvé«, die unter dem Gesamttitel »Les intermittences du cœur« zusammengefaßt waren. Der erste Band war im Typoskript abgeschlossen; er umfaßte die Teile »Combray«, »Un amour de Swann« und »Nom de pays«, mit einem ersten Aufenthalt in Querqueville, dem späteren Balbec. In diesem Teil war nur von den drei Guermantes, nicht aber von den jungen Mädchen die Rede. Alles übrige, darunter ein Kapitel über einen zweiten Aufenthalt in Querqueville mit dem Titel »À l’ombre des jeunes filles en fleurs«, ein dritter Aufenthalt an der Küste mit den Szenen bei den Verdurins sowie die Schlußkapitel des Romans »L’adoration perpétuelle« und »Le bal de têtes«, existierte vorerst nur in den Entwurfheften. Während der Drucklegung von Swann stellte sich heraus, daß der Roman in drei Bände aufgeteilt werden mußte. So entstanden im Sommer 1913 die Bandtitel »Du côté de chez Swann«, »Le côté de Guermantes« und »Le temps retrouvé« sowie der neue Gesamttitel »À la recherche du temps perdu«. Neben der Prousts Schreibgestus innewohnenden Tendenz zur Endlosigkeit haben zwei äußere Ereignisse, ein öffentliches und ein privates, nämlich der Erste Weltkrieg und Prousts dramatische Beziehung zu Alfred Agostinelli, die Fertigstellung des 1913 geplanten Romans verhindert. Grasset hat zwar den zweiten Band der damaligen Recherche noch gesetzt, doch legte die Mobilmachung vom 2. August 1914 jede verlegerische Tätigkeit lahm. Erst 1917, nachdem Proust von Grasset zu Gallimard, das heißt zum Verlag der Nouvelle Revue Française, gewechselt hatte, konnte ein weiterer Band in Druck gegeben werden. In der Zwischenzeit hatte sich Prousts Roman jedoch erheblich verändert. Die neu eingeführte Figur Albertines und die neu entstandenen, um Albertine kreisenden Teile der Recherche bleiben nicht ohne Folgen für die unmittelbare Fortsetzung von Swann , das heißt für den zweiten Band der Recherche . Um die Bewegung auf Albertine hin zu beschleunigen, faßt nun Proust die beiden ersten ursprünglich
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