Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Grundlinien die Hierarchie von Werten an, wie die folgende Generation sie fixieren wird, anstatt sich immer und ewig an die überkommene zu halten.
Graf d’Argencourt, belgischer Geschäftsträger und durch Heirat Großneffe der Madame de Villeparisis, trat hinkend ein, sogleich gefolgt von zwei jungen Männern, dem Baron von Guermantes und Seiner Durchlaucht dem Herzog von Châtellerault, den Madame de Guermantes zerstreut und ohne sich von ihrem Puff zu rühren, mit den Worten begrüßte: »Guten Tag, mein kleiner Châtellerault«, denn sie war eng befreundet mit der Mutter des jungen Herzogs, der deswegen schon von Kindheit an den größten Respekt vor ihr hatte. Groß, schlank, Haut und Haar golden schimmernd, ganz und gar vom Schlage Guermantes, erweckten diese beiden jungen Männer den Eindruck, als verdichte sich in ihnen der abendliche Frühlingsschein, der den großen Salon erfüllte. Einer Sitte folgend, die zu jenem Zeitpunkt in Mode war, stellten sie ihre Zylinderhüte neben sich auf den Boden. Der Historiker der Fronde vermutete, sie seien befangen wie einBauer, der ins Rathaus tritt und nicht weiß, was er mit seinem Hut anfangen soll. Da er glaubte, ihnen in ihrer vermeintlichen Ungeschicklichkeit und Verlegenheit barmherzigerweise zu Hilfe kommen zu müssen, sagte er zu ihnen: »Aber nicht doch, stellen Sie sie doch nicht auf den Boden, das schadet ihnen ja.«
Ein Blick des Barons von Guermantes, der die Ebene seiner Pupillen schräg stellte, führte darin plötzlich ein helles, schneidendes Blau herauf, das den wohlmeinenden Historiker erstarren ließ.
»Wie heißt dieser Herr?« fragte mich der Baron, den Madame de Villeparisis mir gerade vorgestellt hatte.
»Monsieur Pierre«, flüsterte ich ihm zu.
»Pierre? Von was?«
»Pierre ist sein Name, er ist ein Historiker von großem wissenschaftlichem Ruf.«
»Ah! … was Sie nicht sagen.«
»Nein, das ist eine neue Mode bei diesen Herren, daß sie ihre Hüte auf den Boden stellen«, erklärte Madame de Villeparisis, »ich bin wie Sie, ich gewöhne mich auch nicht daran. Aber es ist mir immerhin lieber als bei meinem Neffen Robert, der den seinen stets im Vorzimmer 1 läßt. Ich sage ihm oft, wenn er so hereinkommt, er sehe wie der Uhrmacher aus, und frage ihn, ob er die Wanduhren aufziehen kommt.«
»Sie haben eben, Madame, vom Hut Monsieur Molés gesprochen; wir werden noch wie Aristoteles ein Kapitel über die Hüte zusammenstellen« 2 , sagte der Historiker der Fronde, der sich dank dem Eingreifen von Madame de Villeparisis wieder etwas sicherer fühlte, aber doch noch mit so schwacher Stimme, daß außer mir ihn niemand vernahm.
»Die kleine Herzogin ist wirklich ganz erstaunlich«, sagte Monsieur d’Argencourt, indem er auf Madame de Guermantes wies, die sich mit G. unterhielt. »Sobaldein bekannter Mann in einem Salon ist, hält er sich ständig an ihrer Seite. Klar, daß das eine Koryphäe ist, wenn er dort sitzt. Es kann ja nicht jeden Tag de Borelli, Schlumberger oder d’Avenel 1 sein. Aber dann ist es doch mindestens Pierre Loti oder Edmond Rostand. 2 Gestern abend, bei den Doudeauville 3 , wo sie, nebenbei gesagt, ganz fabelhaft aussah mit ihrem Smaragddiadem und ihrem rosa Abendkleid mit Schleppe, hatte sie auf der einen Seite Monsieur Deschanel 4 und auf der anderen den deutschen Botschafter; sie vertrat ihnen gegenüber ihren eigenen Standpunkt in der chinesischen Frage; das große Publikum, das sich in respektvoller Entfernung hielt und nicht hörte, was sie sagten, fragte sich, ob es nicht Krieg geben werde. Tatsächlich, sie sah aus wie eine Cercle haltende Königin.« 5
Einer nach dem anderen war zu Madame de Villeparisis getreten, um ihr beim Malen zuzusehen.
»Diese Blumen haben ein wirklich himmlisches Rosa«, bemerkte Legrandin, »ich meine das, was man als Himmelrosa bezeichnen muß. Denn es gibt ein Himmelrosa, wie es ein Himmelblau gibt. Aber«, raunte er, um möglichst nur von der Marquise verstanden zu werden, »ich glaube, ich bevorzuge doch das Seidige, das lebendige Inkarnat des Abbildes, das Sie davon schaffen. Oh, Sie stellen Pisanello und Van Huysum 6 mit ihrem peinlich genauen, toten Herbarium weit in den Schatten.«
Ein Künstler, und mag er noch so bescheiden sein, ist immer einverstanden, wenn man ihm vor seinen Rivalen den Vorrang gibt, und ist lediglich bemüht, jenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
»Das kommt ihnen nur so vor, weil sie Blumen aus jener Zeit gemalt haben, die wir nicht mehr
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