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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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schätzen.« Ein Naivling, ein Cottard hätte sich bestimmt gesagt: Na also, er sucht mich von selbst in meinem Hause auf, er legt Wert darauf, zu mir zu kommen, weil er mich für eine bedeutendere Persönlichkeit hält, als er selbst eine ist, er sagt mir, er werde sich glücklich schätzen, mich in der Akademie zu sehen, und Worte haben doch, zum Teufel auch, einen Sinn. Wenn er mir nicht ausdrücklich vorschlägt, fürmich zu stimmen, so sicherlich nur, weil er nicht auf den Gedanken kommt. Er spricht so viel von meinem großen Einfluß, er denkt wohl, die Tauben fliegen mir gebraten in den Mund, ich hätte mit Leichtigkeit beliebig viele Stimmen für mich, und bietet mir die seine deswegen nicht an, aber ich muß ihn nur unter vier Augen einmal festnageln und ihm auf den Kopf zusagen: »Stimmen Sie für mich«, und dann muß er es einfach tun.
    Fürst Faffenheim jedoch war kein Naivling; er war das, was Cottard einen »gewitzten Diplomaten« genannt hätte; er wußte, daß Norpois nicht ein weniger gewitzter war und keineswegs jemand, der nicht sehr wohl gewußt hätte, daß er durch Bereitstellung seiner Stimme einem Kandidaten angenehm sein konnte. Als Botschafter und Minister des Äußeren hatte der Fürst für sein Land – so wie er es heute für sich selber tat – Unterhaltungen gepflogen, bei denen man im voraus weiß, wie weit man gehen will und was man bestimmt nicht sagen wird. Er wußte sehr wohl, daß in der Diplomatensprache eine Unterhaltung ein Angebot bedeutet. Deshalb hatte er für Norpois den Sankt-Andreas-Orden 1 erwirkt. Doch hätte er seiner Regierung über das Gespräch berichten müssen, das er hierauf mit Norpois geführt hatte, hätte er seine Depesche folgendermaßen abfassen können: »Ich mußte feststellen, daß ich mich auf dem falschen Weg befand.« Denn sobald er erneut auf das Institut zu sprechen gekommen war, hatte Norpois wiederum bemerkt:
    »Ich sähe das gern, sehr gern für meine Kollegen, die es sich, wie ich meine, zur hohen Ehre anrechnen müssen, daß Sie an sie gedacht haben. Ihre Kandidatur ist natürlich äußerst interessant, freilich etwas außerhalb der üblichen Gepflogenheiten. Sie wissen ja, die Akademie bewegt sich gern immer in ihrem gewohnten Trott, sie schrickt vor allem, was ein bißchen neu ist, zurück.Persönlich sehe ich einen Mangel darin. Wie oft habe ich es meinen Kollegen schon zu verstehen gegeben. Ich weiß nicht einmal, ob nicht bei einer Gelegenheit – Gott verzeihe mir – das Wort ›verknöchert‹ meinen Lippen entflohen ist«, hatte er mit einem indignierten Lächeln, halblaut und gleichsam »beiseite« wie auf der Bühne, hinzugesetzt, während er dem Fürsten einen raschen, schrägen Blick aus seinem blauen Auge zuwarf wie ein alter Mime, der seine Wirkung abschätzen will. »Sie verstehen, Fürst, daß ich nicht mitansehen möchte, daß eine so hervorragende Persönlichkeit, wie Sie es sind, sich auf eine Partie einläßt, die im voraus verloren ist. Solange die Ideen meiner Kollegen derart rückständig sind, halte ich für klug, sich äußerste Zurückhaltung aufzuerlegen. Glauben Sie mir aber, daß in dem Augenblick, da ich auch nur den geringsten Geist der Erneuerung verspürte und eine lebendigere Tendenz sich abzeichnen sähe in einem Kollegium, das eine gewisse Veranlagung zur Nekropolis hat, wenn ich auch nur im leisesten eine Chance für Sie errechnen könnte, ich der erste wäre, Ihnen einen Wink zu geben.«
    Der Sankt-Andreas-Orden war ein Fehlschlag, stellte der Fürst bei sich fest, die Verhandlungen sind keinen Schritt vorangekommen; es war nicht das, was er wollte. Ich habe den falschen Schlüssel gewählt.
    Dies war eine Art der Überlegung, die sehr wohl auch Norpois, der aus der gleichen Schule wie der Fürst hervorgegangen war, hätte anstellen können. Man mag sich über die pedantische Albernheit lustig machen, mit der sich Diplomaten vom Schlage Norpois’ verzückt über ein alles in allem belangloses Wort in einer offiziellen Mitteilung ergehen. Doch muß man diese Kinderei auch von einer anderen Seite aus betrachten: die Diplomaten wissen, daß in der Waage, in der jenes europäische oder sonstige Gleichgewicht hergestellt wird, das man denFrieden nennt, gute Gefühle, schöne Reden und Beteuerungen äußerst wenig bedeuten und daß das eigentliche, entscheidende Gewicht anderswo liegt, in der Möglichkeit, die der Gegner, je nachdem wie stark er ist, hat oder aber nicht hat, auf dem Wege des Tausches einen

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