Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Wunsch zu befriedigen. Diese Art von Wahrheiten, die ein so vollkommen selbstloses Wesen wie beispielsweise meine Großmutter nicht begriffen hätte, war etwas, womit Norpois und der Fürst von Faffenheim-Munsterburg-Weinigen schon oft zu tun gehabt hatten. Als Geschäftsträger in Ländern, mit denen wir um ein Haar in kriegerische Verwicklungen geraten wären, hatte Norpois in seiner Sorge um die Entwicklung der Dinge genau gewußt, daß nicht die Wörter »Krieg« oder »Frieden« entscheidende Hinweise enthalten, sondern ein anderes, scheinbar ganz banales, das aber allen Schrecken oder Segen in sich birgt, das der Diplomat mit Hilfe seines Chiffresystems auf der Stelle lesen und auf das er, um die Würde Frankreichs zu wahren, durch ein anderes ebenso banales Wort antworten wird, hinter dem aber der Minister des feindlichen Landes sogleich sieht: Krieg. Nach einem alten Brauch ähnlich jenem, nach dem für die erste Annäherung zweier füreinander ausersehener Menschen die Form einer zufälligen Begegnung bei einer Vorstellung des Théâtre du Gymnase 1 gewählt wird, fand das Gespräch, in dem das Schicksal das Wort »Krieg« oder das Wort »Frieden« diktieren würde, gewöhnlich nicht im Arbeitszimmer des Ministers, sondern auf einer Bank in einem »Kurgarten« statt, in dem sowohl der Minister als auch Norpois aus den Thermalquellen in kleinen Gläsern einen heilenden Brunnen zu sich nahmen. Durch eine Art von schweigender Übereinkunft trafen sie sich zur Zeit der Trinkkur und machten vorerst zusammen einen kleinen Rundgang auf einer Kurpromenade, die unter ihrem harmlosen Äußeren imBewußtsein beider Partner so tragisch war wie ein Mobilmachungsbefehl. In einer privaten Angelegenheit nun, wie diese Bewerbung um die Aufnahme in das Institut, hatte der Fürst das gleiche System von Induktionen angewendet wie in seiner diplomatischen Laufbahn, die gleiche Methode, die hinter überlagerten Symbolen zu lesen erlaubt.
Sicherlich kann man nicht behaupten, daß meine Großmutter und ihre so wenig zahlreichen Artgenossen die einzigen gewesen wären, denen diese Art von Kalkül unverständlich blieb. Der Durchschnitt der Menschheit, alle die Leute, die im voraus vorgezeichnete Laufbahnen verfolgen, teilen bis zu einem gewissen Grad durch ihren Mangel an Intuition die Unwissenheit, in der sich meine Großmutter infolge ihrer noblen Selbstlosigkeit befand. Man muß oft bis in die Kreise ausgehaltener Personen, Männer oder Frauen, hinabsteigen, bis man den Beweggrund für die scheinbar unschuldigsten Handlungen und Worte in ganz vitalen Interessen und Notwendigkeiten finden kann. Wenn eine Frau, die man bezahlen wird, einem sagt: »Sprechen wir nicht von Geld«, so weiß ein jeder, daß das, wie in der Musik, ein vor Spielbeginn ausgezählter Takt ist; und wenn sie später erklärt: »Du hast mich zu sehr verletzt, du hast mir zu oft die Wahrheit verheimlicht, ich kann nicht mehr«, so heißt das: Ein anderer Beschützer bietet ihr mehr. Dabei ist das lediglich die Sprache einer Kokotte, die den Damen der Gesellschaft einigermaßen nahesteht. Weit schlagendere Beispiele bieten die Apachen. Monsieur de Norpois und dem deutschen Fürsten waren die Apachen freilich unbekannt, doch sie pflogen gewohnten Umgang mit den Nationen, die ebenfalls, bei all ihrer Größe, Lebewesen sind, und zwar egoistische und abgefeimte, die man nur durch Gewalt bändigen kann und durch Rücksicht auf ihre Interessen, die sie bis zum Mord treiben können, einemseinerseits symbolträchtigen Mord, denn schon ein einfaches Zögern zu kämpfen oder die Weigerung zu kämpfen kann für eine Nation den Untergang bedeuten. Da jedoch von all dem in den verschiedenen Gelb-, Weiß- oder anderen Büchern 1 nichts steht, ist das Volk mit Vorliebe pazifistisch; ist es kriegerisch gesinnt, so aus Instinkt, aus Haß, aus Rachsucht, und nicht aus den für die Staatsoberhäupter, die von einem Norpois beraten werden, entscheidenden Gründen.
Im folgenden Winter war der Fürst schwer krank; er erholte sich, doch blieb sein Herz unheilbar angegriffen.
Ei der Teufel, sagte er sich, jetzt gilt’s keine Zeit verlieren mit dem Institut; denn wenn das zu lange dauert, riskiere ich zu sterben, ehe ich ernannt bin. Das wäre wirklich unangenehm.
Er verfaßte über die Politik der letzten zwanzig Jahre eine Studie für die Revue des Deux Mondes und äußerte sich darin an mehreren Stellen äußerst schmeichelhaft über Norpois. Dieser machte ihm einen Besuch und
Weitere Kostenlose Bücher