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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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–, sah er jetzt wie eine präraffaelitische Larve aus, auf der sich unangebrachterweise Bartstoppel festgesetzt hatten, so wie man manchmal in Opale eingeschlossene Haare findet.
    »Diese ganze Dreyfus-Affäre«, fuhr, immer noch meinen Arm haltend, Monsieur de Charlus fort, »hat nur eine Schattenseite, nämlich daß sie die Ordnung der Gesellschaft auflöst (ich will nicht sagen der guten Gesellschaft, denn seit langem schon verdient die Gesellschaft diese lobende Bezeichnung nicht mehr) durch den Zustrom aller dieser Herren und Damen von und zu Kamel, Kamelle und Kamelmeier, kurz und gut, ganz unbekannter Leute, die ich neuerdings sogar bei meinen Kusinen antreffe, weil sie der ›Ligue de la Patrie française‹ angehören, die antijüdisch oder so etwas ist, als ob eine politische Überzeugung zu gesellschaftlicher Anerkennung berechtigte.«
    Diese frivole Seite des Barons rückte ihn in größere Nähe der Herzogin von Guermantes. Ich strich ihm gegenüber diese Ähnlichkeit heraus. Da er zu glauben schien, ich kenne die Herzogin nicht, erinnerte ich ihn anden Abend in der Oper, wo es so ausgesehen hatte, als verstecke er sich vor mir. Er erklärte mit solchem Nachdruck, er habe mich nicht gesehen, daß ich ihm schließlich geglaubt hätte, wenn nicht bald darauf ein kleiner Zwischenfall mir den Gedanken nahegelegt hätte, daß Charlus vielleicht aus Hochmut nicht wünschte, mit mir gesehen zu werden.
    »Doch kehren wir wieder zu Ihnen zurück«, sagte er, »zu meinen Plänen für Ihre Person. Es besteht, Monsieur, zwischen gewissen Männern eine Art Freimaurertum, von dem ich Ihnen nicht erzählen kann, das aber zu den Seinen zur Zeit vier europäische Souveräne zählt. Nun sind Leute aus der Umgebung des einen – es ist der deutsche Kaiser – darauf aus, ihn von seinem Hirngespinst zu heilen. Das ist eine sehr ernste Sache, die zum Kriege führen kann. 1 Ohne weiteres, jawohl, Monsieur. Sie kennen doch die Geschichte von dem Mann, der meinte, in einer Flasche die Prinzessin von China zu haben. Das war eine Wahnidee. Er wurde davon geheilt. Doch sobald er nicht mehr verrückt war, verblödete er. 2 Es gibt Leiden, von denen man die Menschen nicht heilen soll, weil sie der einzige Schutz gegen weit ernstere sind. Einer meiner Cousins litt an einer Magenkrankheit, er konnte nichts vertragen. Die hervorragendsten Magenspezialisten behandelten ihn ohne Erfolg. Ich brachte ihn zu einem bestimmten Arzt (der, beiläufig bemerkt, auch ein sehr merkwürdiges Individuum ist und über den es viel zu sagen gäbe). Dieser erriet sofort, daß die Krankheit nervöser Art war, er überzeugte seinen Patienten, empfahl ihm, unbesorgt alles zu essen, wozu er Lust hätte, es werde ihm sicher bekommen. Aber mein Cousin war auch nierenkrank. Was der Magen vollkommen gut verdaut, kann die Niere schließlich nicht mehr ausscheiden, und anstatt mit einer eingebildeten Magenkrankheit, die ihn zur Befolgung einer Diät gezwungenhatte, alt zu werden, starb er mit vierzig Jahren bei gesundem Magen an Nieren, denen nicht mehr zu helfen war. Wenn Sie Ihrem eigenen Lebensalter weit voraus wären, könnten Sie vielleicht einmal sein, was ein hervorragender Mann der Vergangenheit hätte werden können, wenn ein gütiger Genius inmitten einer Welt, die davon nichts wußte, die Gesetze der Dampfkraft und der Elektrizität ihm enthüllt haben würde. Seien Sie nicht dumm, lehnen Sie nicht aus Bescheidenheit ab. Verstehen Sie, daß ich, wenn ich Ihnen einen großen Dienst erweise, der Meinung bin, daß Sie mir einen nicht minder bedeutenden erweisen. Seit langem schon interessieren mich die Menschen der mondänen Gesellschaft nicht mehr, ich habe nur noch eine Leidenschaft, und die besteht darin, die Fehler meines Lebens dadurch wieder gutzumachen, daß ich von dem, was ich weiß, einer noch unverdorbenen und zur Begeisterung für die Tugend befähigten Seele den Nutzen zukommen lasse. Ich habe großen Kummer gehabt, über den ich mich Ihnen eines Tages vielleicht mitteilen werde, ich habe meine Frau verloren, die das schönste, edelste, vollkommenste Wesen war, das man sich erträumen konnte. Ich habe junge Verwandte, die nicht gerade unwürdig, aber unfähig sind, die geistige Erbschaft zu übernehmen, von der ich spreche. Wer weiß, ob nicht Sie derjenige sind, in dessen Hände sie übergehen wird, derjenige, dessen Leben ich lenken und auf solche Höhen werde emporführen können? Das meinige würde dabei ja ebenfalls nur gewinnen.

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