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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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materiellen Tätigkeit, zum Beispiel damit, mit einem Taschentuch ihre Finger abzuwischen. Sie wollte nicht denken. Dann kam eine dauernde Unruhe über sie. Unaufhörlich wollte sie aufstehen. Wir hinderten sie daran, so gut wir konnten, aus Angst, sie könne ihren gelähmtenZustand bemerken. Als sie eines Tages einen Augenblick allein geblieben war, fand ich sie stehend im Nachthemd, wie sie versuchte, das Fenster aufzumachen. Als man einmal in Balbec eine Witwe gegen ihren Willen gerettet hatte, nachdem sie ins Wasser gesprungen war, hatte meine Großmutter mir gesagt (vielleicht unter dem Eindruck eines jener Vorgefühle, die wir manchmal aus dem gleichwohl so dunklen Mysterium unseres organischen Lebens ziehen, in dem sich offenbar die Zukunft abbildet), sie kenne keine größere Grausamkeit als die, eine Verzweifelte dem Tode zu entreißen, den sie selbst gewollt hat, und sie wieder ihrem Martyrium anheimzugeben.
    Wir konnten meine Großmutter gerade noch festhalten, sie leistete meiner Mutter mit fast brutalem Ringen Widerstand, dann aber, besiegt, mit Gewalt in einen Sessel gezwungen, hörte sie auf zu wollen, zu bedauern, ihr Gesicht wurde teilnahmslos, und sie begann sorgfältig die Härchen von ihrem Nachthemd abzulesen, die ein Pelzmantel, der ihr rasch übergeworfen worden war, zurückgelassen hatte.
    Ihr Blick veränderte sich vollkommen, er war oft unruhig, klagend, hohl, es war nicht mehr ihr Blick von früher, es war der mürrische Blick einer faselnden Greisin.
    Françoise hatte sie so oft gefragt, ob sie nicht frisiert sein wolle, daß sie schließlich überzeugt war, der Wunsch gehe von meiner Großmutter aus. Sie holte Bürsten, Kämme, Eau de Cologne, einen Frisierumhang herbei und sagte: »Davon kann ja Madame Amédée nicht müde werden, daß ich ihr die Haare mache; wenn man auch noch so schwach ist, Kämmen hält man immer aus.« Das sollte heißen, man ist eben nie zu schwach, als daß eine andere Person einen kämmen könnte. Doch als ich ins Zimmer trat, sah ich in den grausamen Händen von Françoise, die so entzückt schien, als gebe sie meiner Großmutter damit die Gesundheit zurück, unter demtraurig herumhängenden Greisenhaar, das die Berührung mit dem Kamm kaum noch aushielt, einen Kopf, der sich nicht halten konnte, wie man ihn rückte, und in einem unaufhörlichen Wirbel von Erschöpfung und Schmerz herniedertaumelte. Ich merkte, daß Françoise gleich fertig sein würde, und wagte nicht, den Vorgang mit den Worten »Genug jetzt« zu beschleunigen, aus Furcht, sie werde nur ungehorsam sein. Wohl aber stürzte ich mich dazwischen, als Françoise, damit meine Großmutter sehe, ob sie richtig frisiert sei, in ahnungsloser Roheit ihr mit dem Spiegel nahte. Ich war zunächst glücklich, ihn noch rechtzeitig aus ihren Händen gerissen zu haben, bevor meine Großmutter, von der man sorgfältig jeden Spiegel ferngehalten hatte, hineinschauen und unversehens ein Bild ihrer selbst erkennen würde, das sie sich nicht vorstellen konnte. Aber ach! als ich mich einen Augenblick darauf über sie neigte, um die schöne Stirn zu küssen, die so geplagt worden war, sah sie mich mit erstaunter, mißtrauischer, empörter Miene an: sie hatte mich nicht erkannt.
    Nach der Meinung unseres Arztes war das ein Symptom dafür, daß der Blutandrang in dem Gehirn zunahm. Man mußte ihm Erleichterung verschaffen. Cottard zögerte. Françoise hoffte einen Augenblick, man werde »Schöpfköpfe« verwenden. Sie suchte in meinem Lexikon, um zu erfahren, wie diese wirkten, konnte sie aber nicht finden. Auch wenn sie »Schröpfköpfe« anstatt »Schöpfköpfe« gesagt hätte, hätte sie dieses Wort nicht eher gefunden, denn sie suchte ebensowenig unter »Schöpf« wie unter »Schröpf«; tatsächlich sagte sie zwar »Schöpfköpfe«, doch sie schrieb (und glaubte deshalb man schreibe) »Tschöpfköpfe«. Zu ihrer Enttäuschung zog Cottard – ohne sich viel davon zu versprechen – Blutegel vor. Als ich ein paar Stunden später zu meiner Großmutter kam, wanden sich an Nacken, Schläfen und Ohrenangesetzte schwarze Schlänglein in ihrem blutigen Haar wie in dem der Medusa. Doch in ihrem bleichen, befriedeten, völlig regungslosen Gesicht sah ich weit offen, in strahlender Ruhe ihre schönen Augen von einst (vielleicht noch überreicher an Geist, als sie vor ihrer Krankheit waren, weil sie, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen, nur ihren Augen ihr Denken anvertrauen konnte, das Denken, das bald einen ungeheuren

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