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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Raum in uns einnimmt und uns ungeahnte Schätze bietet, bald in ein Nichts zu zerrinnen scheint, um dann wie durch Urzeugung aus der Schröpfung von ein paar Tropfen Blut wieder von neuem zu entstehen), ihre Augen, sanft und flüssig wie Öl, in denen das neu entzündete Licht mit seinem Schein der Kranken das wiedergewonnene Universum erhellte. Ihre Ruhe war jetzt nicht mehr die Weisheit der Verzweiflung, sondern die der Hoffnung. Sie war sich bewußt, daß es ihr besser ging, sie wollte vorsichtig sein, sich nicht bewegen, ließ mir nur das Geschenk eines schönen Lächelns zuteil werden, damit ich wisse, daß sie sich besser fühle, und drückte mir leicht die Hand.
    Ich wußte, mit welchem Widerwillen meine Großmutter gewisse Tiere sah, erst recht aber an sich herankommen ließ. Ich wußte auch, daß sie im Hinblick auf eine höhere Notwendigkeit die Blutegel dennoch ertrug. Daher brachte mich Françoise zur Verzweiflung, als sie kichernd wie einem Kind, mit dem man schäkert, meiner Großmutter unaufhörlich wiederholte: »Ei! was da für kleine Tierchen auf Madame herumlaufen.« Zudem war es respektlos unserer Kranken gegenüber, als sei sie kindisch geworden. Meine Großmutter aber, auf deren Zügen der unerschütterliche Mut der Stoiker lag, schien es nicht einmal zu hören.
    Ach! Sobald die Blutegel wieder weg waren, setzte der Blutandrang nur um so heftiger wieder ein. Ich war sehr überrascht, daß zu diesem Zeitpunkt, als es meinerGroßmutter so schlecht ging, Françoise alle Augenblicke verschwand. Sie hatte sich nämlich ein Trauerkleid bestellt und wollte die Schneiderin nicht warten lassen. Im Leben der meisten Frauen läuft alles, selbst der größte Schmerz, schließlich auf eine Anprobe hinaus.
    Ein paar Tage später, als ich schlief, rief meine Mutter mich mitten in der Nacht. Mit der liebevollen Aufmerksamkeit, die Menschen in wirklich tiefem Leid auch für die kleinsten Unannehmlichkeiten der anderen aufbringen, sagte sie zu mir:
    »Verzeih mir, daß ich dich im Schlaf störe.«
    »Ich habe nicht geschlafen«, behauptete ich im Erwachen.
    Das sagte ich in gutem Glauben. Die große Veränderung, die das Erwachen in uns bewirkt, besteht weniger darin, daß es uns in das helle Leben des Bewußtseins hinaufführt, als daß es uns die Erinnerung an das etwas gedämpftere Licht nimmt, in dem unser Geist vorher ruhte wie auf dem opalenen Grund der Fluten. Die halb verschleierten Gedanken, auf denen wir noch eben einhergeschifft sind, haben in uns eine Bewegung erzeugt, die vollkommen ausreichte, um sie als Wachsein bezeichnen zu können. Doch das Erwachen trifft dann auf eine Interferenz des Gedächtnisses. Kurz darauf nennen wir diese Gedanken Schlaf, weil wir uns nicht mehr daran erinnern. Solange aber das strahlende Gestirn, das im Augenblick des Erwachens dem Schläfer rückblickend seinen ganzen Schlaf mit seinem Schimmer erhellt, noch leuchtet, erweckt es in ihm sekundenlang den Glauben, es habe sich nicht um Schlaf, sondern um Wachsein gehandelt; doch in Wirklichkeit ist dieses Gestirn nur eine Sternschnuppe, die mit ihrem Erlöschen die trügerische Existenz, aber auch die Erscheinungen des Traumes entführt und nur dem, der wirklich erwacht, zu sagen gestattet: »Ich habe geschlafen.«
    Mit einer so sanften Stimme, als fürchte sie, mir weh zu tun, fragte mich meine Mutter, ob es mir nicht zu schwer falle aufzustehen; meine Hände streichelnd, setzte sie hinzu:
    »Mein armes Kind, jetzt wirst du nur noch auf deinen Papa und deine Mama zählen können.«
    Wir traten in das Zimmer. Im Halbkreis über das Bett gekrümmt, röchelte, wimmerte dort ein anderes Wesen als meine Großmutter, eine Art von Tier, das ihr Haar angelegt zu haben und unter ihren Bettdecken zu liegen schien, die es mit krampfartigen Bewegungen hin und her zerrte. Die Augenlider waren gesenkt, und nur weil sie schlecht schlossen, nicht etwa, weil sie sich öffneten, nahm man einen verschleierten, triefenden Streifen des Augapfels wahr, der das Dunkel einer organischen Vision und eines inneren Leidens widerspiegelte. Diese ganze Unruhe richtete sich nicht an uns, die sie nicht sah und nicht kannte. Doch wenn es nur noch ein Tier war, was sich da bewegte, wo war dann meine Großmutter? Man erkannte gleichwohl noch die Form ihrer Nase, die zu dem übrigen Gesicht nicht mehr im richtigen Verhältnis stand, in deren Winkel aber auch jetzt noch ein kleiner Schönheitsfleck saß, ihre Hand, die die Decken mit einer Gebärde zur

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