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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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eintreten sehen, der am selben Morgen in Paris angekommen und auf die schlechte Nachricht hin sofort herbeigeeilt war. »Ach! Das ist wirklich ausgezeichnet!« rief er freudig aus, indem er seinen Neffen so kräftig am Ärmel packte, daß er ihm diesen fast zerriß, ganz ohne sich um die Anwesenheit meiner Mutter zu kümmern, die wiederum durch das Vorzimmer kam. Es war, so glaube ich, Saint-Loup trotz seines aufrichtigen Kummers nicht unangenehm, angesichts seiner Stimmung mir gegenüber ein Zusammentreffen mit mir zu vermeiden. Mit seinem Onkel, der ihm etwas sehr Wichtiges zu sagen hatte, um ein Haar deswegen nach Doncières gefahren wäre und vor Freude ganz außer sich war, daß er sich diese Unbequemlichkeit nun sparen konnte, begab er sich gleich wieder weg. »Ah, wenn man mir gesagt hätte, ich brauchte nur über den Hof zu gehen, um dich hier zu finden, hätte ich gemeint, man macht sich einen Spaß mit mir. Dein Freund Bloch würde sagen, es ist zum Schreien komisch.« Noch während er sich mit Robert entfernte, den er an der Schulter festhielt, wiederholte er: »Wie dem auch sei, es ist wirklich, als hätte ich einen Strick vom Galgen berührt oder so etwas ähnliches; ich habe richtigen Dusel.« Das alles will nicht besagen, daß der Herzog von Guermantes schlecht erzogen gewesen wäre. Im Gegenteil. Aber er gehörte zu den Menschen, die außerstande sind, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, womit sie den Ärzten und den Sargträgern gleichen, und nachdem sie eine Miene des Bedauerns aufgesetzt und gesagt haben: »Welch schmerzlicher Augenblick für Sie«, nötigenfalls sogar uns umarmt und etwas Ruhe angeraten haben, eine Agonie oder eine Beerdigung nur noch als eine mehr oder weniger exklusive gesellschaftliche Veranstaltung betrachten, bei der sie mit vorübergehend unterdrückter Munterkeitnach der Person Ausschau halten, mit der sie von ihren eigenen Angelegenheiten sprechen oder die sie bitten können, sie einem anderen vorzustellen, oder der sie in ihrem Wagen einen Platz für die Rückfahrt anbieten wollen. Während der Herzog von Guermantes sich dazu beglückwünschte, daß »ein guter Wind« ihn seinem Neffen in die Arme getrieben habe, war er gleichwohl so erstaunt über den Empfang, den er begreiflicherweise bei meiner Mutter gefunden hatte, daß er später erklärte, sie sei ebenso unangenehm wie mein Vater liebenswürdig, scheine an einer Art Anfällen von Geistesabwesenheit zu leiden, während deren sie gar nicht höre, was man zu ihr sage, und seiner Meinung nach habe sie nicht alle beieinander, vielleicht sei sie sogar nicht ganz richtig im Kopf. Er war dabei gern bereit, wie man mir sagte, den damaligen Umständen Rechnung zu tragen und zu erklären, er habe den Eindruck gehabt, meine Mutter sei durch jenes Ereignis sehr »mitgenommen« gewesen. Der ganze Rest der im Krebsgang auszuführenden Begrüßungsgesten und Ergebenheitsbezeigungen, die man ihn nicht hatte vollenden lassen, war ihm offensichtlich in den Beinen steckengeblieben, und im übrigen verstand er von Mamas Kummer so wenig, daß er am Vorabend der Beerdigung mich fragte, ob ich denn gar nicht versuche, sie auf andere Gedanken zu bringen.
    Ein Schwager meiner Großmutter, der Pater geworden war und den ich persönlich nicht kannte, telegraphierte nach Österreich, wo sich der Prior seines Ordens aufhielt, und nachdem er durch eine besondere Gunst die Erlaubnis dazu erhalten hatte, kam er noch am selben Tag. Tief betrübt las er neben dem Sterbebett Gebete und Meditationen, ohne seinen bohrenden Blick von der Kranken zu wenden. In einem Augenblick, da meine Großmutter ohne Bewußtsein war, tat mir der Anblick der Trauer dieses Priesters weh, und ich betrachteteihn. Er schien über mein Mitleid erstaunt, und darauf vollzog sich nun etwas Merkwürdiges. Er legte seine beiden Hände vor sein Gesicht wie ein in schmerzliche Betrachtung versunkener Mensch, aber da er meinte, ich werde wieder wegsehen, hatte er zwischen seinen Fingern einen kleinen Spalt offengelassen. In dem Augenblick, wo meine Blicke ihn verließen, bemerkte ich sein scharfes Auge, das sich das Versteck hinter den Fingern zunutze gemacht hatte, um zu beobachten, ob mein Schmerz wohl auch aufrichtig sei. Er hielt sich dahinter verschanzt wie im Schatten des Beichtstuhls. Als er feststellte, daß ich ihn sah, schloß er das bis dahin halboffene Gitter sogleich hermetisch ab. Ich habe ihn später wiedergesehen, aber niemals war zwischen uns von dieser

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