Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
ihn aber nicht gut.«
»Das tut nichts. Herr Ober, bringen Sie zunächst Rotbarbe für mich und Risotto für Madame, und zwei halbe Évian!«
Es folgte darauf erneutes langes Schweigen.
»Hier, schauen Sie her, ich bringe Ihnen Il Corriere della sera und Il Giornale d’Italia. Ich habe auch Le Temps. Ich will die Nachrichten von der Börse lesen«, fügte er mit fürsorglichem Eifer hinzu, als hätte es sich um Nachrichten von einem Kranken gehandelt.
Und tatsächlich fügte er bald hinzu:
»Unseren Renten geht es besser, aber die Minen bleiben schwach. De Beers erholt sich sehr schnell, vielleicht sogar etwas zu schnell. Wenn nur kein Rückfall eintritt. Die Erdölwerte geben wieder Lebenszeichen. Warum lesen Sie denn nicht? Il Giornale d’Italia ist doch die Zeitung von Sonnino!« 1
Nach langem Schweigen fragte Madame de Villeparisis:
»Sonnino, ist das nicht ein Verwandter von Monsieur de Venosa?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Monsieur de Norpois in gereiztem Ton, »das ist ein englischer Jude mit dem Vornamen Sidney (hat aber nichts zu tun mit dem reizenden Sidney Schiff 2 ). Er ist scheint’s eine Kapazität, hat aber offenbar einen scheußlichen Charakter.«
Monsieur de Norpois fuhr fort, die Zeitung zu lesen.
»Haben Sie daran gedacht, dem Botschafter einen Besuch abzustatten?« fragte Madame de Villeparisis mit derStrenge einer durch die Sanftheit des Alters gemilderten Liebe.
»Ja, ich war in seinem Hotel, bevor ich zu Salviati ging. Er hat mir sehr interessante Dinge erzählt. Ich wußte beispielsweise nicht, daß er, als Briand am Ruder war, dem Palazzo Farnese ein Telegramm gesandt hatte, in dem es hieß, ›falls die italienische Regierung die Ausweisung von Monsieur Caillaux 1 verlange, man sich dem nicht widersetzen solle‹. Das war sehr klug und beweist ein diplomatisches Geschick, in dem leider die Italiener Meister geworden sind, so daß sie sich hüteten, irgend etwas zu verlangen. Er hat zwei mir ebenfalls unbekannte Depeschen von Ribot 2 und Jonnart 3 damit in Zusammenhang gebracht. In der ersten zeigt sich Ribot erschrocken über das heftige Vorgehen Jonnarts in seinem Widerstand gegen König Konstantin, predigt ihm Mäßigung und erinnert ihn daran, daß er unter seiner Verantwortung handle. Nach Jonnarts Erfolg aber schickt ihm Ribot ohne weiteres eine überschwengliche Depesche, beglückwünscht ihn von ganzem Herzen und fügt hinzu: ›Im übrigen wissen Sie ja, daß ich bereit war, Sie mit all meinen Kräften zu unterstützen, wenn Sie auf irgendein Hindernis gestoßen wären.‹ Diese etwas vorschnelle Art, seine Schuld einzugestehen, schmälert meine Sympathie für Ribot in keiner Weise. Hätten wir doch, bei Gott, nur Männer wie ihn und Briand!«
»Und was ist mit diesem vielzitierten Fiume«? 4 fragte Madame de Villeparisis nach einer Weile.
»Na gut! Ganz anders, als ich immer dachte, ist Nitti, 5 dem ich D’Annunzio als eigentlichen Adlatus verbunden dachte, kein Fiumist. Es war da bei dem Botschafter auch ein völlig unbekannter französischer Schriftsteller, Marcel 6 – den Namen weiß ich nicht mehr –, der aber ein überschwenglicher Verehrer von D’Annunzio ist; er vergleicht dessen freiwilliges Exil in Frankreich 7 mitdemjenigen Dantes; er hat im Vor- oder besser im Rückblick drei Verse von Vergil gedichtet, in denen Äneas vor Fiume vorüberzieht und dabei D’Annunzio heraufbeschwört; er hat einen Vers Hugos zitiert, vielleicht aus ›Le Petit Roi de Galice‹, in dem die Art, eine Stadt zu erobern, derjenigen von D’Annunzio sehr ähnlich ist, und es scheint, daß sogar in den Stücken D’Annunzios dem Boden eine historische Vergangenheit entströmt. In den Augen der italienischen Regierung ist es aber eine ernstere, wenn nicht sogar eine tragische Angelegenheit. Natürlich will sie das Gesicht wahren. Doch geht es nicht mehr darum, den Namen D’Annunzios auf die Fahne zu schreiben, oder etwa, ihm eine Blankounterschrift zu geben. Man will ihn mit welchen Mitteln auch immer unterkriegen, und da man mich freundlicherweise um meine Meinung gefragt hat, habe ich, nicht ohne meine Vorbehalte gegenüber der Politik des Risorgimento anzubringen, angedeutet, es sei gefährlich, das Palaver zu verlängern, denn die ganze Angelegenheit könnte zu einer Art Partisanenkrieg ausarten, mit dem Risiko, daß sich ein Pulverfaß entzündet und Italien seinen Platz am grünen Tisch verliert.«
Ein Herr, der soeben seine Mahlzeit beendet hatte, grüßte Monsieur
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