Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Augenblicke, weil sie es so oft behauptet hatte, daß es nur eine Lüge war, wenn sie sagte, sie würde krank, und nahmwirklich das seelische Verhalten einer Kranken an. Denn Menschen, die es müde sind, die Seltenheit ihrer Anfälle immer nur ihrer eigenen Vorsicht zu verdanken, reden sich gern einmal ein, sie könnten ungestraft alles tun, was ihnen gefällt, aber in der Regel schlecht bekommt, wofern sie sich in die Hände eines Mächtigen begeben, der sie ohne ihr eigenes Zutun mit einem Wort oder einer Pille wieder auf die Beine bringt.
Odette hatte sich auf ein Tapisseriesofa beim Flügel gesetzt.
»Sie wissen ja, ich habe mein festes Plätzchen«, sagte sie zu Madame Verdurin.
Diese sah, daß Swann auf einem Stuhl saß, und hieß ihn aufstehen:
»Da sitzen Sie nicht gut, setzen Sie sich doch zu Odette; nicht wahr, Odette, bei Ihnen ist doch noch ein bißchen Platz für Monsieur Swann?«
»Was für ein schönes Beauvais«, bemerkte Swann, um etwas Nettes zu sagen, bevor er sich niederließ.
»Oh, das freut mich, daß Sie mein Sofa zu schätzen wissen«, antworte Madame Verdurin. »Und ich kann Ihnen auch gleich sagen, wenn Sie etwas ebenso Schönes finden wollen, geben Sie es lieber von vornherein auf. Die haben so etwas nur einmal gemacht. Die kleinen Stühle sind auch einzig in ihrer Art. Sie müssen sich das gleich nachher einmal ansehen. Die Bronzeappliken passen jeweils als Attribut zu dem Mittelstück auf dem Sitz; Sie werden Ihren Spaß haben, wenn Sie sich das alles genau ansehen, ich sage Ihnen voraus, es wird ein Genuß für Sie sein. Allein schon die Bordüren da, sehen Sie sich nur die winzige Rebe auf dem roten Grund von ›Der Bär und die Trauben‹ 1 an! Das ist noch gezeichnet, was? Sieht die kleine Traube nicht zum Anbeißen aus? Mein Mann behauptet immer, ich mache mir nichts aus Früchten, weil ich weniger esse als er. Aber nein, ich binim Grunde versessener als irgend jemand darauf, nur muß ich sie nicht in den Mund stecken, um sie zu genießen; ich weide mich mit den Augen daran. Was habt ihr denn alle zu lachen? Fragen Sie den Doktor hier, er kann Ihnen sagen, daß die Trauben da mich purgieren. Andere machen Traubenkuren mit Fontainebleau-Chasselas, mir genügt meine kleine Beauvaiskur. Aber, Monsieur Swann, Sie kommen mir nicht aus dem Haus, ohne daß Sie die kleine Bronzen auf den Rückenlehnen angefaßt haben. Ist sie nicht wie Seide, diese Patina? Nicht so, mit der ganzen Hand. Sie müssen sie richtig befühlen.«
»O Gott, wenn Madame Verdurin anfängt, die Bronzen abzuknutschen, hören wir heute abend keine Musik«, bemerkte der Maler.
»Schweigen Sie, Sie boshafter Mensch. Im Grunde«, fügte sie zu Swann gewendet hinzu, »verbietet man uns Frauen Dinge, die weit weniger lustvoll sind als das. Doch es gibt gar keine menschliche Haut, die den Vergleich damit aushielte! Als Monsieur Verdurin mir noch die Ehre erwies, eifersüchtig zu sein – geh, sei wenigstens höflich und behaupte nicht, du seiest es niemals gewesen …«
»Aber ich habe ja gar nichts gesagt. Doktor, Sie sind mein Zeuge: habe ich etwas gesagt?«
Swann befühlte aus Höflichkeit die Bronzeappliken und wagte nicht, gleich wieder aufzuhören.
»Kommen Sie, Sie können sie später noch streicheln; jetzt wird man Sie streicheln, man wird Sie im Ohr streicheln; Sie haben das sicher gern, stelle ich mir vor; hier dieser junge Mann wird es übernehmen.«
Als aber der junge Pianist gespielt hatte, war Swann noch liebenswürdiger zu ihm als zu allen anderen, und zwar aus folgendem Grund:
Im vorhergehenden Jahr hatte er bei einerAbendgesellschaft eine Komposition für Geige und Klavier gehört. 1 Zunächst hatte ihn nur der materielle Reiz der von den Instrumenten entsandten Töne entzückt, und es war bereits ein großer Genuß für ihn gewesen, als er wahrnahm, wie sich unter der leise, aber beharrlich und gedrängt führenden Stimme der Geige mit tröpfelndem Plätschern plötzlich die vielgestaltigen, doch miteinander verbundenen Stimmen des Klavierparts zu erheben suchten, flach ausgebreitet, aber bewegt wie die malvenfarbene, vom Mondschein verzauberte und in eine weichere Tonart versetzte Erregung der See. Von einem gewissen Augenblick an aber hatte er, ohne daß er, was ihm eigentlich so gefiel, deutlich sich abzeichnen sah oder hätte benennen können, wie verzaubert das Thema 2 oder die Harmonie – er wußte es selber nicht – festzuhalten versucht, die an sein Ohr drang und ihm die Seele auftat,
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