Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
sie seinem Wunsche entsprach, in folgender Weise den Unterschied betonte: »Monsieur Swann, haben Sie wohl die Güte, mir zu erlauben, daß ich Ihnen unseren Freund Saniette vorstelle?«), aber er rief sofort bei Saniette eine leidenschaftliche Sympathie hervor, von der die Verdurins Swann übrigens nie ein Wort sagten, denn sie waren Saniettes etwas überdrüssig und legten keinen Wert darauf, ihm Freunde zu gewinnen. Swann hingegen erwarb sich ihre volle Zuneigung, als er glaubte, auch gleich darum bitten zu müssen, die Bekanntschaft der Tante des Pianisten zu machen. Gekleidet wie immer in Schwarz, da sie der Meinung war, daß Schwarz stets richtig und stets am vornehmsten sei, hatte sie ein stark gerötetes Gesicht, wie sie es jedesmal nach dem Essen bekam. Sie verneigte sich respektvoll vor Swann, richtete sich dann jedoch gleich mit Würde wieder auf. Da sie keinerlei Bildung besaß und Angst vor Schnitzern hatte, sprach sie absichtlich möglichst undeutlich in der Hoffnung, daß, wenn sie etwas Falsches sagte, ihre Rede in einem solchen Gemurmel untergehen werde, daß es nicht mehr mit Sicherheit festzustellen sei; dadurch war ihre Sprechweise allmählich zu einem bloßen unklaren Nuscheln geworden, aus dem sich von Zeit zu Zeit eine einzelne Vokabel heraushob, deren sie vollkommen sicher war. Swann glaubte, er könne sich im Gespräch mit Verdurin diskret über sie amüsieren, der darüber allerdings pikiert war.
»Sie ist so eine herzensgute Frau«, sagte er. »Ich gebe zu, sehr brillant ist sie nicht; aber ich kann Ihnen nur sagen, wenn man allein mit ihr spricht, ist sie außerordentlich nett.« »Ich zweifle nicht daran«, beeilte sich Swann beizupflichten. »Ich wollte nur sagen, daß sie mir nicht gerade ›überragend‹ vorkommt«, fügte er unter Betonung dieses Adjektivs hinzu, »was ja eher ein Kompliment sein mag!« »Wissen Sie«, meinte Verdurinnoch, »Sie werden es kaum glauben, aber sie schreibt auf eine ganz reizende Art. Ihren Neffen haben Sie noch nie gehört? Er ist ganz großartig, nicht wahr, Doktor? Soll ich ihn bitten, etwas zu spielen, Monsieur Swann?« »Ja, das wäre wirklich ein Glück …«, leitete Swann seine Antwort ein, als der Doktor ihn mit spöttischer Miene unterbrach. Da er gelernt hatte, daß in der Unterhaltung jede Emphase, jeder Gebrauch von großen Worten aus der Mode gekommen sei, glaubte er, sobald er ein offenbar ernstgemeintes gewichtigeres Wort vernahm wie in diesem Falle das Wort »Glück«, daß derjenige, der es ausgesprochen hatte, sich ins philisterhaft Pompöse verirrt habe. Und wenn dazu dieses Wort noch in dem vorkam, was er als »Cliché« bezeichnete, so glaubte er, wie allgemein üblich das Wort auch im übrigen sein mochte, der angefangene Satz sei zum Lachen, und vollendete ihn ironisch mit dem Gemeinplatz, den er seinem Gesprächspartner damit in den Mund legte, wenn dieser auch nicht im entferntesten an ihn gedacht hatte.
»Ein Glück für Frankreich!« rief er schalkhaft und hob dabei emphatisch die Arme.
Monsieur Verdurin konnte sich ein Lachen nicht verbeißen.
»Was haben sie denn zu lachen, all die guten Leute da, man scheint ja keine Trübsal zu blasen in eurer Ecke da hinten«, rief Madame Verdurin. »Ihr glaubt wohl, es macht mir Spaß, hier ganz allein von allem ausgeschlossen zu sein«, fügte sie in schmollendem Babyton hinzu.
Madame Verdurin saß auf einem hohen schwedischen Stuhl aus gewachstem Tannenholz, den ein Geiger jenes Landes ihr zum Geschenk gemacht hatte und den sie behielt, obwohl er wie ein Küchenschemel aussah und keineswegs zu den schönen alten Möbeln paßte, die sie besaß; doch sie legte Wert darauf, Geschenke, die ihreGetreuen ihr von Zeit zu Zeit zu machen pflegten, bei der Hand zu haben, damit die Spender bei ihren Besuchen das Vergnügen hätten, sie bei ihr wiederzufinden. Sie bemühte sich daher allerdings zu erreichen, daß man es lieber bei Blumen und Pralinés bewenden ließ, die irgendwann wieder verschwinden; es gelang ihr aber nicht recht, und so hatte sie bereits eine ganze Sammlung von Fußwärmern, Kissen, Stutzuhren, Wandschirmen, Barometern, Blumentopfhüllen, in unzähligen Wiederholungen und so bunt zusammengewürfelt wie Weihnachtsgeschenke.
Von ihrem Hochsitz aus nahm sie lebhaft an den Gesprächen der Getreuen teil und erheiterte sich an deren »Possen«, doch seit dem Mißgeschick, das ihrem Kiefer zugestoßen war, verzichtete sie auf die Mühe eigentlicher Lachausbrüche und überließ
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