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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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zu flüchten, bei denen er den Dingen nicht auf den Grund zu gehen brauchte. Ebenso wie er sich einerseits nicht fragte, ob er vielleicht besser daran getan hätte, sich nicht so völlig der Gesellschaft zu verschreiben, andererseits aber mit Sicherheitwußte, daß er, wenn er eine Einladung angenommen hatte, unbedingt auch hingehen und daß er, wenn er einen Besuch nicht machte, hinterher wenigstens seine Visitenkarte abgeben müsse, so bemühte er sich auch in der Unterhaltung, niemals mit innerer Anteilnahme eine Meinung über die Dinge auszusprechen, sondern nur sachliche Einzelheiten beizusteuern, die für sich selbst sprachen und ihm erlaubten, sich über seine Person selbst auszuschweigen. Er war überaus genau, wenn es sich um ein Kochrezept oder das Geburts- und Todesjahr eines Malers oder den Katalog seiner Werke handelte. Manchmal ließ er sich trotz allem so weit gehen, eine Meinung über ein Werk oder eine Lebensauffassung zu äußern, aber er tat es dann in ironischem Ton, so als stehe er eigentlich nicht ganz zu seinen Worten. Doch wie gewisse kränklich veranlagte Menschen, bei denen plötzlich der Aufenthalt in einer anderen Gegend, eine neue Diät oder manchmal eine unvermittelte, unerklärliche organische Entwicklung einen solchen Rückgang ihrer Krankheit zu bewirken scheinen, daß in ihnen die schon aufgegebene Hoffnung wiederaufflammt, spät doch noch ein ganz neues Leben zu beginnen, so stieß Swann in sich bei der Erinnerung an das Thema, das er gehört hatte, und beim Anhören von ein paar Sonaten, die er sich hatte vorspielen lassen, um zu sehen, ob es nicht darin vorkomme, auf eine jener unsichtbaren Wirklichkeiten, an die er nicht mehr glaubte; und als habe die Musik in der seelischen Verödung, an der er litt, sozusagen die Entstehung neuer Substanz bewirkt, verspürte er von neuem den Wunsch und fast auch die Kraft in sich, seinem Leben neue Weihe zu geben. Da es ihm aber nicht gelungen war, in Erfahrung zu bringen, von wem das Werk, das er gehört hatte, war, hatte er es sich nicht verschaffen können und dann schließlich vergessen. Er hatte wohl im Laufe der Woche ein paar Personengetroffen, die auch an jenem Abend dabeigewesen waren, und sie danach gefragt; doch manche von ihnen waren erst nach dem musikalischen Teil gekommen oder vorher gegangen; manche waren auch da, während die Sonate gespielt wurde, hatten aber während der Zeit in einem anderen Salon die Unterhaltung fortgesetzt, andere waren zwar geblieben, hatten aber nicht mehr als jene gehört. Die Gastgeber selbst wußten, daß es sich um ein neues Werk handelte, das die bei ihnen engagierten Künstler gern hatten spielen wollen; diese selbst befanden sich auf einer Konzertreise, kurz, Swann erreichte nichts. Er hatte viele Freunde, die Musiker waren; aber obwohl er sich den besonderen und nicht wiederzugebenden Genuß in die Erinnerung zurückrufen konnte, den das Thema ihm verschafft hatte, und sein Diagramm deutlich vor sich sah, war er doch außerstande, es ihnen vorzusingen. Schließlich dachte er nicht mehr daran.
    Jetzt aber, nur wenige Augenblicke nachdem der junge Pianist bei Madame Verdurin zu spielen begonnen hatte, bemerkte Swann plötzlich nach einem zwei Takte hindurch ausgehaltenen Ton, wie sich etwas aus diesem langgezogenen Klang herausschälte, der sich gleich einem klingenden Vorhang ausbreitete, um das Mysterium der Inkubation zu umhüllen, er sah, wie es näher kam, sich raunend, rauschend herauslöste, und da erkannte er sie wieder, die luft- und duftgetränkte Melodie, die er liebte. Sie war so unverkennbar in ihrem einzigartigen Reiz, der durch nichts zu ersetzen war, daß es Swann vorkam, als habe er in einem befreundeten Salon eine Frau getroffen, die er auf der Straße bewundert und die jemals wiederzusehen er doch nie gehofft hatte. Zuletzt entfernte sie sich, mit liebevollem Eifer den Weg weisend, in den Verzweigungen ihres Duftes; auf Swanns Zügen ließ sie den Widerschein ihresLächelns zurück. Jetzt aber konnte er nach dem Namen seiner Unbekannten fragen (er erfuhr, dies sei das Andante der Sonate für Violine und Klavier von Vinteuil), er hatte sie in der Hand, er konnte sie bei sich haben, sooft es ihm gefiel, und konnte versuchen, hinter ihre Sprache und ihr Geheimnis zu kommen.
    So geschah es, daß Swann, als der Pianist geendet hatte, auf ihn zutrat und ihm auf eine Weise dankte, die in ihrer Lebhaftigkeit Madame Verdurin sehr gefiel.
    »Er kann zaubern, nicht wahr?« sagte sie zu

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