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Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)

Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)

Titel: Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Gilmour
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Künstler ebenso durch seine Lektüre Vergils inspiriert wurde wie durch eigene Eindrücke von dieser Landschaft. Dem Dichter kann man es kaum zum Vorwurf machen, dass er auch die Vorlage für die Schäferinnen auf Meißner Porzellan lieferte oder für Marie-Antoinettes petit hameau in Versailles.
    Vergils laus Italiae (Lob Italiens) erfüllte auch einen politischen Zweck. Die Stärke und Bestimmung, die er für dieses Land der Vielfalt und Fülle sah, könnte man mit dem Schlagwort »Einheit in Vielfalt« zusammenfassen. Für Vergil war das römische Italien kein ruhmreicher Stadtstaat, sondern Staatsgebilde – so etwas wie eine Nation, ein Territorium gemeinsamer Werte und Erfahrungen. Die Seeschlacht bei Actium zwischen den früheren Verbündeten Marcus Antonius und Octavian (dem künftigen Augustus) beschrieb er nicht als Episode in einem römischen Bürgerkrieg (was sie in Wirklichkeit war), sondern als Kampf zwischen Octavians »Italienern« und dem unrömischen, orientalischen Feind in Gestalt des dekadenten, sinnenfrohen Antonius und seiner ägyptischen Geliebten Kleopatra.
    Augustus, der – so die Überlieferung – die Aeneis entgegen dem auf dem Sterbebett ausgesprochenen Wunsch ihres Verfassers nicht verbrennen ließ, sah die Idee Italien weniger schwärmerisch. Er benutzte sie zu politischen Zwecken und behauptete, tota Italia (ganz Italien) habe ihm in seinem Krieg gegen Antonius Treue und Unterstützung geschworen. Aber weder ließ er es auf seine Münzen prägen, noch betrachtete er es als eine Nation. Für ihn war Italien eine politische Verwaltungsgröße, keine organische Einheit, und als erEinheit, und als er es ines in elf Regionen aufteilte, achtete er darauf, die ethnischen Grenzen zu wahren. Umbrer, Etrusker, Pikener und Ligurer erhielten je eine eigene Region. Eine Verschmelzung ethnischer Gruppen – der Latiner und Campaner, der Sabiner und Samniten, der Lukanier und der Bruttier – fand in allen Regionen mit zwei Ausnahmen statt.
    Ein anderer, der von tota Italia sprach, war der Redner und Staatsmann Cicero. Nach Caesars Tod sprach er sich dafür aus, Octavian müsse Italien von der Tyrannei des verkommenen Trunkenbolds Antonius befreien. Sein Argument mochte zutreffen, aber es kam zu früh (Octavian und Antonius waren damals gerade im Begriff, sich zu verbünden) und zog wenige Monate später seinen eigenen Tod auf Antonius’ Befehl nach sich. Als Sohn eines römischen Ritters aus Arpinum, der als Politiker Stimmen brauchte, sah Cicero wie Vergil die Vorteile der Vielfalt. Er schätzte seinen Geburtsort, die »zauberhafte und Gesundheit spendende« Landschaft, und vergötterte Rom, wo er in einem prachtvollen Haus auf dem Palatin lebte. Aber er sah Italien insgesamt nicht als seine Heimat, als patria , an. Als sein Freund Atticus ihn fragte, ob er zwei Heimatorte oder ein einziges Heimatland habe, erwiderte Cicero, er habe, wie jeder außerhalb Roms Geborene, zwei Heimatländer, eines von Geburt und eines als Bürger. Er war mit einer doppelten Identität zufrieden. Ennius, ein Dichter aus Apulien, beanspruchte gar eine dreifache. Er habe drei Seelen, erklärte er, weil er griechisch, oskisch und lateinisch spreche. Erst der romantische Nationalismus des 19. Jahrhunderts – und seine finsteren Nachfolger – schrieben eine einzige Seele vor.
    Bürger Roms, die im Allgemeinen patriotische Bindungen sowohl an Rom als auch an ihren Geburtsort pflegten, betrachteten das übrige Italien kaum als ihre Heimat. Der Dichter Catull mag sich in Rom und Verona zu Hause gefühlt haben, hatte aber keinen emotionalen Bezug zu den gleichfalls von den Römern gegründeten Städten Piacenza (Placentia, die Angenehme) oder Florenz (Florentia, die Blühende), die dazwischen lagen. Dieser duale, aber lokal begrenzte Patriotismus war das Ergebnis der Bündnisverträge Roms mit den verschiedenen italischen Völkern. Es handelte sich um bilaterale Abkommen zwischen der dominierenden Macht und den unterworfenen Städten. Ähnliche Verträge der Städte untereinander wurden von Rom keineswegs gefördert, sondern sogar verboten. Das römische Italien war daher keine Föderation italischer Territorien, sondern eine Art Radialsystem, bei dem die politischen Speichen – wie die Straßen – allesamt zur Hauptstadt führten. Nationalisten waren die Römer des 1. Jahrhunderts v. Chr. nicht, sie waren es nie gewesen. Zudem kam ein Großteil ihrer Kultur aus dem hellenistischen Ausland. Ihr Italien bestand im

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