Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
Situation in Italien. Die Zeitgenossen mussten sich nicht in Sehnsucht nach ihrer Heimat verzehren, sie konnten in ihren Städten am Ufer des Po leben, auch wenn in Mailand ein österreichischer Vizekönig regierte. Sie waren nicht auf die »teure, bitt’re Erinnerung« angewiesen.
Bei seiner Beschäftigung mit Nabucco stellte Roger Parker erstaunt fest, dass damalige Zeitschriften zwar oft Szenen der Oper beschrieben, aber nur selten Va pensiero erwähnten, und von Zuschauern, die hier eine Zugabe verlangten, war gar nicht die Rede. Später entdeckte er, dass die Geschichte von den Zugaben von Franco Abbiati erfunden worden war, dem Verfasser einer vierbändigen, 1959 erschienenen Verdi-Biographie. Zur Stützung seiner These hatte Abbiati eine Kritik angeführt, die aber gar keine Zugabe erwähnte, sondern sich auf eine andere Kritik einer anderen Aufführung bezog. Bei jener Vorstellung war für den des Nationalismus unverdächtigen Schlusschor Immenso Jehova eine Zugabe verlangt worden. *149
Musik kann selbstverständlich Menschen aufrütteln und edle, heroische Gefühle in ihnen wecken. Es gibt Augenblicke in Beethovens Symphonien, die einen glauben machen, man führe einen Reiterangriff. Donizetti hatte keine Propagandapläne im Sinn, als er 1834 Gemma di Vergy schrieb, aber die Inszenierung der Oper im revolutionären Klima Palermos Ende 1847 provozierte die Rufe »Lang lebe Italien!«, »Lang lebe der Papst!« und sogar »Lang lebe der König!« Norma zeigte 1859 in der Scala eine ähnliche, von seinem damals schon verstorbenen Komponisten ebenso ungeplante Wirkung. Auch einige von Verdis Opern, die in der fiebrigen Atmosphäre gewisser Risorgimento-Jahre aufgeführt wurden, regten die Menschen an, Patriotismus in diesen Werken zu erblicken und lautstark ihre Zustimmung zu bekunden. Aber mit der einzigen Ausnahme von Legnano in Rom gibt es nur wenige glaubhafte Belege für politische Rufe der Zuschauer – im Unterschied zu den gewöhnlichen Bravorufen. Verdi war außerhalb des Opernhauses genauso populär wie drinnen, denn er schrieb Arien, die man in Tavernen sang oder auf der Straße pfiff, Melodien, die man mit der eigenen Kapelle, auf Drehorgeln und später auf dem Akkordeon spielen konnte. Seine Musik und die Handlung seiner Opern inspirierten viele, und zweifellos bewogen sie manche, zu den Waffen zu greifen und Opfer für Italien zu bringen. Doch die Werke anderer Komponistenzeigten eine ähnliche Wirkung, Bellinis Puritaner etwa oder Donizettis Marino Faliero .
Fast alle frühen Opern Verdis – die 15, die er vor 1849 schrieb – kamen bald aus der Mode, obwohl einige im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und ins internationale Repertoire aufgenommen wurden. Die meisten zeigen Schwächen, die sich in den späteren Werken selten finden, darunter eine allzu herzhafte Ausgelassenheit und eine Lautstärke, die so viel höher liegt als bei seinen Vorgängern, dass Verdi zusammen mit Beethoven in eine eigene Lärmkategorie zu fallen scheint. Königin Victoria hatte jedenfalls nicht ganz unrecht, als sie klagte, I Masnadieri sei »sehr laut und trivial«. Überdies ist Verdis Orchestrierung in den frühen Werken oft durchaus schlicht, teilweise monoton, und gelegentlich sinkt sie zu einer klimpernden Begleitmusik herab. Da Verdi mit der Orchestrierung meist erst nach Probenbeginn anfing, verwundert das kaum. Kritiker haben ihm vorgeworfen, »Drehorgelmusik« zu komponieren: ein unfairer Vorwurf, aber er setzte allzu oft Bühnenkapellen ein, und in seiner Instrumentalmusik schwingt gelegentlich Volksfestatmosphäre mit.
Die künstlerische Einschätzung ist natürlich subjektiv geprägt, was Probleme birgt, und in Verdis Fall spielt auch hinein, dass er bekanntlich später, ab dem Rigoletto (1851), ein wirklich großer Komponist wurde. Dennoch steht fest, dass er 1848 weder eine nationalpatriotische Gestalt noch der Lieblingskomponist der Italiener war. Donizettis Opern wurden zu der Zeit weit häufiger aufgeführt. Wäre Verdi nach Legnano mit 35 Jahren gestorben, hätte sein Erbe im Vergleich zu Bellini, der nur 33 wurde, kläglich ausgesehen. Wenn man nicht wüsste, dass Il Trovatore (Der Troubadour) und La Traviata nachfolgten, würden viele frühe Opern heute wohl gar nicht mehr aufgeführt. Einige wie Oberto, Alzira und Giovanna d’Arco wären womöglich völlig aus den Spielplänen verschwunden. Vielleicht wären in unserem Jahrhundert nur noch Nabucco, Ernani und Macbeth im Repertoire.
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