Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
geschrieben, die mit der Zeile beginnt: »Italien, erhebe dich, die Zeit ist gekommen.« Doch solche Gefühlsäußerungen konnten Rossinis allbekannte Verfehlungen nicht wiedergutmachen: dass er, ein Konservativer, gern für die Bourbonen gearbeitet hatte und 40 Jahre lang mit Metternich befreundet war, dass er für die reaktionäre Heilige Allianz (ein im September 1815 gegründetes Bündnis der Monarchen Russlands, Preußens und Österreichs) peinliche Kantaten komponiert hatte und im April von Angst gepeinigt aus Bologna nach Florenz geflohen war.
Beim Durchforsten von Verdis Libretti konnten die Fans ihrem Helden jedoch Patriotismus bescheinigen, ohne sich mit solchen Altlasten zu plagen. Die Verbindungen, die sie herstellten, waren dennoch oft dürftig. Keine Lesart des Librettos von Macbeth kann davon überzeugen, dass Verdi an Italien dachte, als er seine schottischen Exilanten von ihrer »unterdrückten Heimat« singen lässt. Ähnliche Bezüge wurden von ausländischen Autoren hergestellt, die anderen Forderungen nach einem geeinten Italien zwar oft skeptisch begegneten, den Verdi-Mythos aber propagierten, ohne zu prüfen, wie groß sein Wahrheitsgehalt ist. Ein typisches Beispiel dafür ist der Oxforder Philosoph Isaiah Berlin, der behauptete, Verdi habe »nah am Gravitationszentrum seiner Nation gelebt und zu seinen Landsleuten und für sie gesprochen wie kein anderer, nicht einmal Manzoni oder Garibaldi«. Der Komponist, so erklärte Berlin, habe sich unermüdlich für das Anliegen eines geeinten Italien engagiert. »Die Hymne, die Verdi für Mazzini schrieb«, sei »nur eine Episode in einem einzigen großen Feldzug«. Der Patriot »reagierte tief und persönlich auf jede Wendung im italienischen Kampf um Einheit und Freiheit. Die Hebräer des Nabucco «, fügte Berlin in einem von Fehlern strotzenden Absatz hinzu, »waren Italiener in Gefangenschaft«, und ihr berühmter Chor »das nationale Gebet für die Wiederauferstehung«. *147
Ein Blick in Verdis Libretti genügt, um zu sehen, wie komplex und intim seine Geschichten sind. In einer typischen Opernhandlung Verdis wird die Liebe zwischen Tenor und Sopran durch den Bariton vereitelt, manchmal aber auch durch den Mezzosopran unterstützt. Selbst Legnano beruht auf einer Dreiecksbeziehung: Der Sopran hatte den Tenor geliebt, aber im Glauben, er sei tot, den Bariton geheiratet, der Rache schwört, sobald er erkennt, dass seine Frau und der wiederauferstandene Tenor einander immer noch lieben. Politische Botschaften spielen gegenüber den Liebesverwicklungen der Hauptfiguren eine untergeordnete Rolle und werden auch noch verschleiert, weil es in den Risorgimento-Opern so schwierig ist, die echten Schurken auszumachen. Wenn die Kreuzfahrer in I Lombardi die Guten sind, warum trachten sie dann einander nach dem Leben? Und warum ist der Sarazene Orontes die reizvollste Figur der Oper? Warum ist Attila, der archetypische barbarische Eindringling, der sympathischste Akteur in dem gleichnamigen Werk? Warum kommt in Legnano mit Barbarossa ein weiterer grausamer Aggressor so glimpflich davon? Und warum muss das Publikum daran erinnert werden, dass in Italien die historischen Spaltungen so tief gingen, dass die Bürger von Como auf Seiten des Kaisers gegen den Lombardischen Bund kämpften?
Am hartnäckigsten hält sich die Legende, dass sich das Publikum bei Nabucco mit den hebräischen Sklaven identifizierte, deren Chor (Va pensiero) als eine Art heimliche Nationalhymne ansah und ihn bei jeder Aufführung als Zugabe verlangte. Sieht man sich den Text von Temistocle Solera genauer an, fragt man sich, wie diese Legende jemals Glaubwürdigkeit erlangen konnte.
Zieh, Gedanke, auf goldenen Flügeln,
zieh, lass dich nieder auf Bergen und Hügeln,
wo lau und mild die süßen Lüfte
der Heimat duften!
Grüße die Ufer des Jordans,
Zions zerstörte Türme.
O mein schönes, verlorenes Vaterland!
O teure, bitt’re Erinnerung!
Goldne Harfe der weissagenden Seher,
weshalb hängst du stumm an der Weide?
Schür’ die Erinn’rung in unserer Brust,
erzähle uns von vergangener Zeit!. *148
Text und Musik sind wunderschön,aber sie sind eine Klage um die Vergangenheit und kein martialischer Aufruf zu handeln. Erst am Ende der Szene, nachdem Zacharia sie aufgefordert hat, sich »aufzurichten« und aufzuhören, sich wie »angstvolle Frauen« zu verhalten, denken die Sklaven daran, ihre Ketten abzuwerfen. Der Chor selbst enthält keinerlei Bezug zur damaligen
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