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Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)

Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)

Titel: Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Gilmour
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Überlegung: Er gab ihnen die Kontrolle über die süditalienischen Regionen, dafür überließen sie ihm die Kontrolle des Staates. Depretis gewann zwar ihre Stimmen, verlor dafür aber die Möglichkeit, Reformen durchzuführen, die der Süden so dringend brauchte. Seine Methode, Wählerstimmen gegen Gefälligkeiten zu tauschen, verhinderte im Süden die Entstehung einer politischen Klasse und überließ die Macht der »repressiven Klasse«, wie Sonnino es nannte: Landbesitzern und Mafiosi, die Wählerstimmen beschafften unter einer Bedingung: dass sie weitgehend in Ruhe gelassen wurden.
    Der trasformismo verhinderte die Herausbildung politischer Parteien mit eigenständigen Programmen und führte zu einer Lähmung des Staates. Lanza hatte gehofft, Italien werde das britische System mit zwei Parteien unterschiedlicher politischer Ausrichtung übernehmen, die sich in der Regierung abwechselten. Dabei ließ er jedoch außer Acht, dass sich dieses System in Großbritannien über viele Jahrhunderte entwickelt hatte. Deshalb war die Chance gering, in Rom eine politische Opposition auf die Beine zu stellen, wenn die Regierung potenzielle Gegner mit dem Versprechen von Gefälligkeiten verführen konnte. Depretis erhob den Anspruch, im Interesse aller und nicht im Interesse von Splittergruppen zu regieren. Tatsächlich aber regierte er im Interesse jener, die ihm eine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer beschafften. Seine Macht beruhte auf Klientelwirtschaft, Bestechung und Wahlmanipulationen, zu denen er die Provinzpräfekten anstiftete. Francesco Crispi beschrieb 1886 die parlamentarischen Praktiken in Depretis’ dritter und längster Amtszeit als Ministerpräsident wie folgt:

    Man sollte sehen, wasim Palazzo Montecitorio [dem Sitz der Abgeordnetenkammer] los ist, wenn eine wichtige Abstimmung bevorsteht. Die Agenten der Regierung eilen durch die Säle und Korridore, um Stimmen zu sammeln. Subventionen, Auszeichnungen, Kanäle, Brücken, Straßen, alles wird versprochen. Und manchmal ist der Preis für eine Abgeordnetenstimme ein lange verweigerter Akt der Gerechtigkeit. *222

    Der Verfall der parlamentarischen Standards war freilich nicht allein Depretis’ Schuld. Die Abgeordneten brachten das Parlament in
     Verruf, weil sie sich in Bankskandale verwickelten, sich selten im Parlament blicken ließen und sich oft rüpelhaft verhielten. Zuweilen warfen sie mit
     Tintenfässern oder lieferten sich in der Abgeordnetenkammer Prügeleien. Duelle waren verboten, dennoch wurde 1898 ein Abgeordneter bei seinem 31. Duell
     tödlich verwundet. Nicht nur Hinterbänkler legten ein so verantwortungsloses Verhalten an den Tag. Auch Minister waren in Raufereien und Duelle
     verwickelt. In einem Fall duellierten sich der amtierende Ministerpräsident Marco Minghetti und der ehemalige Ministerpräsident Urbano Rattazzi. Und als
     Depretis zu Hause krank im Bett lag, musste er in seinem Schlafzimmer miterleben, dass Innenminister Giovanni Nicotera einen Stuhl nach einem Amtskollegen
     warf, dem späteren Ministerpräsidenten Giuseppe Zanardelli, und als er ihn verfehlte, versuchte, ihn aus dem Fenster zu stoßen. Ein anderes Mal spuckte
     Nicotera einen Abgeordneten an, um ihn zum Duell zu zwingen. Kein Wunder, dass der Mailänder Corriere della Sera berichtete, die Abgeordnetenkammer
     habe in jener Zeit »nicht die geringste Unterstützung der Bevölkerung« genossen und sei nur »verlacht und verachtet« worden. Nachvollziehbar ist auch
     Sonninos Analyse in einer Rede vor der Abgeordnetenkammer im Jahr 1881, als er sagte:

    Die große Mehrheit der Bevölkerung, mehr als neunzig Prozent […] fühlt sich von unseren Institutionen vollkommen abgekoppelt. Die Menschen sehen sich dem Staat ausgeliefert und gezwungen, ihm mit ihrem Blut und ihrem Geld zu dienen, empfinden sich aber nicht als lebendiger und organischer Teil dieses Staates und haben nicht das geringste Interesse an seinem Fortbestand und an seinem Tun. *223

SCHÖNE LEGENDEN
    Im Jahr 1865 erklärte der Ministerpräsident, General La Marmora, im Parlament, Italien sei »sehr viel geeinter als ältere, gefestigtere Nationen«. *224 Er erhielt den stürmischen Beifall der Abgeordneten, die genau wussten, dass er Unsinn redete. Dennoch hielten sie es für notwendig, so zu tun, als sei diese Behauptung wahr, und hofften, neben Maßnahmen zur Förderung der nationalen Einheit werde die beharrliche Wiederholung dieser Behauptung die Italiener von deren Wahrheit überzeugen. Sie

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