Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
zu viel Macht einräumte. In den ersten dreieinhalb Jahren gaben im neuen Königreich sechs Ministerpräsidenten einander die Klinke in die Hand. Dieses Karussell verlangsamte sich in Rom eine Zeit lang, bis es (abgesehen von der Zeit der faschistischen Diktatur) erneut Fahrt aufnahm und sich bis Anfang des 21. Jahrhunderts weiterdrehte. Die Abgeordnetenkammer, in dem riesigen, aber unschönen Palazzo Montecitorio untergebracht, entwickelte sich nie zu einem Hort des Nationalstolzes und des Vertrauens der Bevölkerung in ihren Staat. Schuld daran trug nicht zuletzt Vittorio Emanuele, der das Parlament verachtete und zu Giovanni Lanza, einem seiner fähigsten Ministerpräsidenten, sagte, es habenicht die Aufgabe, Fragen der hohen Politik zu erörtern.
Nach 1861 wurde Italien 15 Jahre lang von Männern regiert, die Cavours Kollegen und Anhänger gewesen waren: Liberalkonservative aus Norditalien, in der Regel patriotisch und idealistisch, die sich als Abgeordnete manchmal wie die Senatoren im antiken Rom vorkamen. Eine Gedenktafel im Baptisterium der Kathedrale von Pistoia erinnert an einen Parlamentarier, der, wie es heißt, nicht nur ein vorbildliches Leben als Familienvater führte, sondern auch ein »Muster der Unbescholtenheit«, Mäßigung, Enthaltsamkeit und Uneigennützigkeit war. Unter der Bezeichnung La Destra (die Rechte), die jedoch nicht viel rechter war als die sogenannte Linke, versuchten sie, aus der Einigung eine Einheit zu schaffen, eine übermenschliche Aufgabe, der sie nicht gewachsen waren. Tüchtige Finanzminister steigerten das Nationaleinkommen und sorgten für einen ausgeglichenen Staatshaushalt, wenngleich um den Preis, dass Italien zu einem der Länder mit den höchsten Steuern weltweit wurde. Ihr entscheidendes Verdienst war, dass sie Vittorio Emanuele und seine Generäle daran hinderten, nach 1866 weitere Kriege zu führen. Im Jahr 1870 blieben Ministerpräsident Giovanni Lanza und Finanzminister Quintino Sella standhaft, als General Cialdini, ein enger Verbündeter des Königs, den Rücktritt der Regierung forderte, weil sie sich weigerte, Preußen den Krieg zu erklären. Auch als Cialdini eine stärkere Armee forderte, um das Privateigentum im eigenen Land zu schützen, wies Sella zu Recht darauf hin, dies würde höhere Steuern und damit soziale Unruhen bedeuten.
Trotz ihrer Fehler und Fehlschläge im Süden des Landes kamen die piemontesischen Politiker der Destra dem Ideal einer verantwortungsvollen herrschenden Klasse im geeinten Italien so nah wie nie zuvor. Sie hatten gehofft, Piemont würde das Preußen der italienischen Halbinsel werden, das Königreich, um das herum sich alle anderen Staaten zusammenschlossen, doch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Ihr Staat im Nordwesten war zu klein, zu schwach und nicht nur geographisch, sondern auch kulturell und historisch zu abgelegen, um in einem geeinten Italien eine solche Rolle zu übernehmen.
Nach der entscheidenden Niederlage der letzten Regierung der Destra 1876 kamen die Linken unter Führung von Agostino Depretis an die Macht. Der neue Ministerpräsident war in vielfacher Hinsicht typisch piemontesisch: nüchtern, bedachtsam und unbestechlich. Doch den Rückhalt seiner politischen Macht bildeten die Abgeordneten aus dem Süden des Landes, insbesondere Juristen, die jetzt die Mehrheit der Abgeordneten stellten. Depretis führte die allgemeine Schulpflicht ein, doch die Unterschiede zwischen linksund rechts waren eher an Stimmungen und Einstellungen als an der politischen Ideologie abzulesen. Die Liberalkonservativen hatten für einen geordneten Staatshaushalt gestanden und für einen Staat, der sich in das Leben seiner Bürger möglichst wenig einmischte. Viele Linke dagegen wollten einen mächtigen Staat, der Arbeitsplätze schuf und die öffentliche Bautätigkeit ankurbelte. Mehr als die Rechten waren sie darauf aus, Krieg zu führen und sich auf koloniale Abenteuer einzulassen. Folglich stieg unter Depretis die Staatsverschuldung in alarmierender Weise.
Unter der Dominanz der Linken gab die Politik ihre Prinzipien zunehmend auf, wurde korrupter und konzentrierte sich mehr auf Deals und Manipulationen als auf Strategien und Programme. Depretis förderte diese Entwicklung mit einem programmatischen trasformismo , der Beschaffung solider parlamentarischer Mehrheiten durch Bündnisse mit wechselnden, manchmal inkompatiblen Gruppen. Seine Koalition mit den Abgeordneten Süditaliens beruhte auf einer einfachen
Weitere Kostenlose Bücher