Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
hielten es für sehr wichtig, den Gründungsmythos der Nation zu pflegen und die Idee zu propagieren, die Einheit sei durch ein geeintes Volk geschaffen worden, das entschlossen war, sich seine Freiheit zu erobern. Giovanni Giolitti, der fähigste Ministerpräsident Italiens seit Cavour, verstand die Bedeutung »schöner nationaler Legenden«: Die Italiener, meinte er, brauchten das Bewusstsein einer ruhmreichen Vergangenheit und eines gemeinsamen Schicksals.
Giolittis Argument ist durchaus nachvollziehbar. Nationen brauchen Traditionen, so mythisch und weithergeholt sie auch sein mögen. Aber wo soll ein Land, das gerade erst eine Nation geworden war, echte nationale Traditionen hernehmen? Selbst wenn der Lombardische Bund so einprägsame Figuren wie Wilhelm Tell oder Jeanne d’Arc hervorgebracht hätte: Für die Sizilianer und die Bewohner anderer Regionen, deren Vorfahren gegen diesen Bund kämpften, hätten sie keine Identifikationsfiguren sein können. Italien verfügte schlichtweg nicht über Symbole und Rituale, die andere europäische Völker im Lauf einer jahrhundertelangen Geschichte entwickelt hatten. Es hatte keine fleur-de-lis und keine Marseillaise, keine Magna Charta und keinen Union Jack. Und selbst die grün-weiß-rote Nationalflagge, il tricolore , folgte dem Vorbild der französischen Revolutionsflagge. Noch viel wichtiger aber: Es fehlte jene innige Verbindung zwischen Religion und Monarchie, die für die Gründung und Festigung älterer Nationen so hilfreich war: in Spanien unter den katholischen Königen oder in England unter Heinrich VIII. Italien war zwar ein katholischer Staat, aber das Oberhaupt der katholischen Kirche weigerte sich, ihn anzuerkennen.
Der vielleicht entschiedenste Förderer des Risorgimento-Mythos war Francesco Crispi, einer von Garibaldis Tausend. Später bestimmte das Streben nach nationaler Größe und internationaler Anerkennung seine Politik. Regierungen und Institutionen, sagte er im Parlament, hätten »die Verpflichtung, sich in Marmor und in Monumenten zu verewigen«, ebenso die Monarchie. Crispimochte Vittorio Emanuele persönlich zwar überhaupt nicht, aber er war überzeugt, der Kult um den König als »Vater des Vaterlandes«, dessen Begräbnis im römischen Pantheon 1878 er organisiert hatte, sei dem Streben nach nationaler Größe förderlich. Die Pflege dieses Kults bedeutete jedoch auch, dass bestimmte Dokumente unterdrückt wurden, die diesem verklärenden Bild widersprachen. Deshalb schickte man Beamte zu den Empfängern von Briefen des verstorbenen Königs, um Schriftstücke verschwinden zu lassen, die unpatriotische und herabwürdigende Äußerungen Vittorio Emanueles über die Italiener enthielten. Dieses Problem betraf freilich nicht nur die königliche Korrespondenz. Als Cavours Briefe herauskamen, wurden Bemerkungen über die »feigen« Toskaner und den »schändlichen« und »grausamen« Garibaldi ebenso gestrichen wie die Äußerung seines Wunsches, die Garibaldiner »auszurotten«. *225
Garibaldi wurde von der Regierung in Turin gelegentlich, Mazzini stets als Feind betrachtet, aber beide waren unweigerlich Teil des nationalen Mythos, weil sie deutlich romantischer waren und mehr Opferbereitschaft zeigten als Cavour und Vittorio Emanuele. Mazzini hätte sich über die Verklärung seiner Person und über sein Nachleben in Form von Denkmälern, Straßennamen und Einträgen in Schulbüchern (vielleicht ein sinnvolleres Medium für die Pflege der Erinnerungskultur als die zahllosen Statuen) sicherlich gewundert. Schulbücher waren nützlich, um Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld für sich zu reklamieren (die Schlacht von Magenta wurde zu einem Sieg der Piemontesen umgemünzt, obwohl sie gar nicht daran teilgenommen hatten), aber auch, um die Feinde der Nation zu definieren. König Ferdinand wurde zwar wegen der Beschießung Messinas 1848 als »re Bomba« (Bombenkönig) geschmäht, aber Vittorio Emanuele tritt natürlich nicht als Übeltäter in Erscheinung, der Genua, Ancona, Capua und Gaeta hatte beschießen lassen. Eine weitere Maßnahme zur Pflege des Patriotismus waren Risorgimento-Museen, die überall in Norditalien eröffnet wurden. In Süditalien erfreuten sie sich verständlicherweise geringerer Beliebtheit.
Die aufschlussreichsten Objekte in diesen Museen sind die Drucke und Gemälde, die dem Betrachter einen Eindruck von der Eintracht vermitteln, die unter den Giganten des Risorgimento angeblich herrschte. Garibaldis und Mazzinis Wege
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