Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Brüder oder Väter auf diese Weise zu töten. Wie sie dann doch von dieser Idee abgekommen sind, weil die Verbindung zu ihnen beiden bei den anschließenden Ermittlungen zu eng gewesen wäre.
Als Nathan erfährt, dass Richard gestanden hat, tut er dies auch. Der anschließende Prozess wird zum absoluten Medienspektakel. Die Geschichte ist so haarsträubend unglaublich, dass Bürger, Reporter, Ermittler, Gutachter und Juristen gleichermaßen entsetzt und fassungslos sind. Die reichen, angesehenen Familien der jungen Männer schämen sich buchstäblich zu Tode. Beide Väter sterben kurz nach Ende des Prozesses an Herzversagen. Die Geschwister ziehen weg und ändern ihre Namen. Zahlreiche Psychiater sprechen mit Nathan und Richard.
Zu dieser Zeit ist das Konzept von »Psychopathie« nur sehr vage bekannt. Doch die psychiatrischen Gutachter beschreiben die dazugehörigen Eigenschaften, die sie bei Nathan und Richard wahrnehmen, absolut richtig: Die tief sitzende Gefühlsverminderung, das Fehlen jeglicher Schuldgefühle, die zum Größenwahn übersteigerte Selbstwahrnehmung, das ungewöhnliche Talent zu lügen und zu schauspielern und ihre chronische »innere Langeweile«, die sie nach »Kicks« suchen lässt. Juristen, Reporter und Bürger hören all dies, begreifen kann es trotzdem niemand. Obwohl die Familien der Täter entsetzt sind, heuern sie den bekannten, sehr teuren, aber auch sehr guten Anwalt Clarence Darrow für ihre Söhne an. Denn denen droht – trotz ihres jungen Alters, durch das sie in den USA noch als Minderjährige gelten – die Todesstrafe.
Der Anwalt hat nur zwei Möglichkeiten: Entweder er erreicht, dass die beiden wegen einer Geisteskrankheit für unzurechnungsfähig erklären werden, oder er räumt ein, dass sie zurechnungsfähig sind, versucht aber aufgrund ihrer Jugend gegen die Todesstrafe zu argumentieren und eine lebenslange Haft »herauszuholen«. Er entscheidet sich für Letzteres. Sein sehr gut vorbereitetes, sehr langes Abschlussplädoyer geht in die Geschichte der amerikanischen Rechtsprechung ein. Er weiß, dass er gar nicht erst zu versuchen braucht, für seine jungen Mandanten vor Gericht »Sympathiepunkte« zu machen. Nach allem, was inzwischen bekannt ist, wäre das unmöglich. Stattdessen konzentriert er sich darauf, seine Kritik an der Todesstrafe umfassend zu begründen, vor allem, wenn es juristisch gesehen um Minderjährige geht. Außerdem erklärt er, dass jeder einzelne der beiden jungen Männer wahrscheinlich niemals ein solches Verbrechen begangen hätte. Dies ist auch die Meinung der Psychiater.
Dr. Gluck sagt dazu aus: »Ich denke, dieses Verbrechen war wohl das unausweichliche Ergebnis dieses seltsamen Zusammentreffens von zwei krankhaft gestörten Persönlichkeiten. Jeder einzelne der beiden brachte in ihre Beziehung einen Teil seiner Persönlichkeit ein, was ihnen erst möglich machte, dieses Verbrechen zu planen und auszuführen.«
Darrow sagt in seinem Abschlussplädoyer unter anderem: »Dies war eine sinnlose, nutzlose, ziellose, motivlose Handlung zweier Jungs. (…) Da war kein Hauch von Hass, kein Funke Bosheit, da war keine Gelegenheit, um grausam zu sein, abgesehen davon, dass der Tod grausam ist – und der Tod ist grausam.« Darrow will damit betonen, dass Nathan und Richard Robert nicht gequält oder gefoltert haben, sondern ihn »einfach nur« töten wollten. Sie hätten also keine Freude daran gehabt, noch zusätzlich grausam ihm gegenüber zu handeln. Das macht das Ganze natürlich für einen normal fühlenden Menschen keinesfalls erträglicher, aber Darrow hat auch wirklich nicht viel Spielraum, um irgendetwas Positives für die jungen Männer ins Feld zu führen.
Weiterhin räumt er zwar ein, Nathan und Richard seien zurechnungsfähig; dennoch seien die beiden – das streitet wirklich kein Mensch ab – offensichtlich zutiefst in ihren Persönlichkeiten gestört. Dabei betont er, was auch die Gutachter bestätigen: »Wären sie normal gewesen, dann hätten sie dieses Verbrechen nicht begangen.«
Abschließend sagt der Anwalt etwas, wovon er und alle anderen sicher zutiefst überzeugt sind, was aber so nicht ganz richtig ist: »Die Aussagen in diesem Fall offenbaren ein Verbrechen von einzigartiger Grässlichkeit. Es ist in gewissem Sinne unerklärlich. Doch das macht es nicht weniger unmenschlich und abscheulich.« Darrow und alle anderen irrten seinerzeit insofern, als sie glaubten, ein Verbrechen wie dieses sei unerklärlich und in dieser
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