Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
– »Ohnmacht« oder »Erstarrung« aus.
In diese Erstarrung verfallen betroffene Menschen, wenn sie der traumatischen Situation weder durch Flucht noch durch Kampf entkommen. Sie fühlen nichts mehr, bekommen wenig oder gar nichts mehr mit, werden stumm und bewegen sich eventuell auch nicht mehr – sie sind buchstäblich erstarrt. In solche Zustände können auch erwachsene Menschen verfallen, weil sie als Kinder traumatisiert wurden. Wenn irgendetwas – vielleicht nur eine Farbe, ein Geruch, ein Geräusch – ihr Gehirn an das Trauma erinnert, kann wieder die Alarmanlage anspringen und das gleiche Notfallprogramm auslösen wie seinerzeit in der traumatischen Situation. Manche Betroffene erstarren dann ganz oder teilweise, bei anderen kann die alte Flucht- oder Kampfreaktion ausgelöst werden, das bedeutet, sie geraten in Panik oder werden sehr wütend und aggressiv. Einige traumatisierte Menschen »durchlaufen« immer wieder alle drei Notfallprogramme, ohne sie abstellen zu können.
Wenn alte Notfallprogramme aus traumatischen Situationen viele Jahre später immer wieder ausgelöst werden, kann dies verheerende Folgen für die Betroffenen und ihre Umwelt haben. Dies kann auch bei Straftaten eine wichtige Rolle spielen, ohne dass es den Tätern selbst bewusst sein muss. Wie sehr diese alten Programme die gegenwärtigen Gefühle, Gedanken und Handlungen beeinflussen können, führte der bekannteste forensische Psychiater der USA, Dr. Park Dietz, dem psychopathischen Serienmörder Richard Kuklinski während eines ihrer Gespräche im Gefängnis vor Augen. Kuklinski hatte eingewilligt, offen mit dem Psychiater zu sprechen und dies auch filmen zu lassen, da er sich nicht erklären konnte, warum er zum kaltblütigen Mörder von ungefähr zweihundert Menschen geworden war, während er eine scheinbar glückliche Ehe führte und sich als Vater engagiert um seine drei Kinder kümmerte.
Kuklinkski mit Frau und Kindern.
An einer Stelle des Gesprächs sagt Kuklinski mit sehr beherrschter Stimme und leicht lächelnd: »Sie haben mich eben fast wütend gemacht.« Der Psychiater erwidert: »Ich weiß. Was hat Sie wütend gemacht?« Kuklinski antwortet blitzschnell, weiter leicht lächelnd: »Ich weiß es nicht. Doch Sie haben es fast getan.« »Versuchen Sie herauszufinden, was es war«, fordert ihn Dietz heraus. Spontan, wie ein trotziges Kind, erwidert Kuklinski: »Nein.« Dann fasst er sich wieder, denn er führt dieses Gespräch schließlich freiwillig, um etwas über sich selbst zu lernen.
Der Psychiater wiederholt seine Aufforderung in ruhigem Ton. Kuklinski sagt: »Ich weiß es nicht genau. Es muss offensichtlich etwas gewesen sein, was Sie sagten. Doch ich weiß nicht genau, was es war.« Dietz daraufhin: »Könnte es die Tatsache gewesen sein, dass ich Sie mit einer Frage herausgefordert habe und es für Sie ablehnend klang?« Kuklinski nickt: »Ja, das kann gut sein. Denn es hat mich geärgert, was Sie sagten. Das ist die Wahrheit.« »Wie wütend sind Sie?«, fragt Dietz. »Ein wenig«, erwidert Kuklinski leicht lächelnd und ergänzt dann: »Ziemlich, ich fühle mich ein wenig geladen. Bin an einem Punkt in meinem Leben, wo ich ein wenig gereizt bin.« Dietz fragt: »Was würden Sie jetzt gerne tun?« Kuklinski erwidert mit entspanntem Gesicht und einem Achselzucken: »Das spielt keine Rolle.«
Dann ergänzt er lächelnd: »Ich denke, es ist noch nicht zu dem Punkt gekommen, an dem ich etwas Dummes anstellen würde. Bin nur neugierig und frage mich selbst, warum das eben passiert ist, denn ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass das jetzt passiert ist, weil Sie so die Möglichkeit hatten, etwas davon zu sehen. Ich weiß wirklich nicht, warum das passiert ist.« Dietz fragt: »Hatten Sie das Gefühl, dass ich Sie kritisiert habe?« Augenblicklich antwortet Kuklinski »Ja«, wobei er angespannt wirkt. »War das der Auslöser?«, fragt Dietz. »Das denke ich schon«, erwidert Kuklinski. »Wer hat Sie in Ihrem Leben am meisten kritisiert?«, fragt Dietz. Sofort antwortet Kuklinski: »Natürlich mein Vater.« »Eben«, antwortet der Psychiater.
Kuklinski hat nie verstanden, warum er einerseits nie Mitleid gegenüber seinen Opfern oder Angst während seiner Taten gespürt hat, andererseits aber sehr schnell Wut empfindet. Er ist nicht vollkommen gefühllos, nur einige Gefühle scheinen in ihm »ausgeschaltet« zu sein, während andere umso heftiger sind. Kuklinski hatte wie alle stark psychopathischen
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