Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
dem Durchschnitt der Bevölkerung zu entsprechen, muss nicht zwangsläufig negative Folgen haben. Dies zu verstehen ist sehr wichtig, denn »anders« zu sein bedeutet eben nicht automatisch, »unsozial« oder gar »gefährlich« zu sein.
Dies erklärte auch der Psychiater Park Dietz in einem seiner Gespräche dem Serienmörder Richard Kuklinski. Irgendwann fragte Kuklinski leicht zögernd: »Was denken Sie … über … mich? Irgendetwas Gutes, Schlechtes oder etwas dazwischen?« Dietz antwortete: »Ein wenig von alldem«, worauf Kuklinski überrascht lachte. Die meisten Menschen würden sicher nichts »Gutes« in jemandem sehen, der rund zweihundert kaltblütige Morde beging. Diese Taten waren zutiefst »böse«, da sie für unglaubliches Leid sorgten, das steht außer Frage. Doch Dietz sieht wie viele Wissenschaftler, die mit Straftätern arbeiten, in einem Menschen sehr viele unterschiedliche Eigenschaften. Dazu gehören auch solche, die mit seinen Taten nichts zu tun haben.
Etwas später erklärte er Kuklinski, dass die Persönlichkeit, die er als Erwachsener entwickelt habe, auf einer Mischung aus seinen Erbanlagen und seinen deutlich zerstörerischen Kindheitserfahrungen beruhe. In diesem Zusammenhang sagte Dietz etwas sehr Wichtiges: »Es gibt eine genetische Grundlage dafür, eine furchtlose Person zu sein. Sie haben mir berichtet, dass Sie nur sehr selten nervös werden oder Angst empfinden. Es müssen sehr extreme Dinge passieren, damit Sie ein Gefühl für bevorstehende Gefahr wahrnehmen. Normale Menschen werden häufig bei sehr vielen Dingen ängstlich und wären außer sich, wenn sie je etwas von dem erleben würden, was Sie jede Woche erlebten. Was Sie getan haben, hätten Sie nicht tun können, wenn Sie normale Angst empfinden würden.
Doch die Tatsache, dass Sie mit einer genetischen Anlage zur Furchtlosigkeit geboren wurden, bedeutet nicht, dass es unvermeidbar für Sie war, ein Verbrecher zu werden. Denn einige Menschen, die eine solche genetische Veranlagung dazu haben, furchtlos zu sein, verwenden ihre Risikoneigung später zum Nutzen der Gesellschaft. Sie werden beispielsweise Rennfahrer, testen als Piloten neue Flugzeugmodelle oder entschärfen Bomben. Das sind alles Berufe, in denen es sehr nützlich ist, furchtlos zu sein. Tatsächlich sind auch einige Menschen in Berufen, die mit Strafverfolgung zu tun haben, mutig und nutzen ihre Risikoneigung in diesem Bereich.«
Diese Sätze passen zu einem meiner Lieblingszitate, von der französischen Sängerin Édith Piaf: »Nutze deine Fehler, nutze deine Schwächen.« Zwei Beispiele dafür aus meinem Berufsfeld, vor denen ich menschlich großen Respekt habe, sind die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein und die Psychologin Marsha Linehan. Spielrein kam 1904, als sie neunzehn Jahre alt war, wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Nach ihrer Entlassung wurde sie bis 1909 mit der damals noch neuen Methode der Psychoanalyse therapiert. Sie studierte Medizin, arbeitete anschließend als Therapeutin, entwickelte psychologische Theorien weiter und veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel zu psychoanalytischen Themen.
Auch die 1943 geborene Psychologin Marsha Linehan arbeitet unter anderem als Therapeutin, Forscherin und Autorin. In der Wissenschaftswelt wurde sie durch die Entwicklung einer völlig neuen Behandlungsmethode bekannt, der »Dialektisch-Behavioralen Therapie«. Was lange Zeit kaum jemand wusste: 1961 kam sie für zwei Jahre mit der Fehldiagnose Schizophrenie in eine Psychiatrie. Dass sie tatsächlich an der Borderline-Störung litt, wurde nicht erkannt, da man damals noch verhältnismäßig wenig darüber wusste. Später studierte sie Psychologie und spezialisierte sich auf die Behandlung von Patienten, die unter den gleichen Symptomen litten wie sie selbst. Es ist kein Zufall, dass gerade sie die bis heute wirksamste Behandlungsmethode für ihre eigene Störung entwickelte.
2011 hielt Marsha Linehan einen Vortrag in ebender Psychiatrie, wo sie genau fünfzig Jahre zuvor als Patientin gewesen war. Bei dieser Gelegenheit bekannte sie sich zum ersten Mal öffentlich dazu, selbst an Borderline zu leiden. Einige Tage später machte sie ihre Vergangenheit in einem Interview mit der Zeitung »New York Times« öffentlich. Sie beschrieb darin mit eindrücklichen Worten, was sie motiviert hatte, nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zu helfen: »Ich war in der Hölle und ich machte ein
Weitere Kostenlose Bücher