Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
was ein Pastor, der die Person nicht oder nur kaum kennt, über deren Leben zu sagen hat. Die Prozession erreicht das Gebäude, die Familie, Freunde, Bekannte und Verwandte setzen sich gemeinsam vor die Urne. Ich versuche mich weiterhin im Hintergrund zu halten. Glücklicherweise sind alle zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu demonstrieren, wie stark sie um den Verstorbenen trauern, um darauf zu achten, ob irgendjemand nicht trauert.
Der Pastor beginnt mit der Rede und hangelt sich an dem Lebenslauf entlang, den irgendjemand ihm vorher gegeben hat. Ich persönlich bin erstaunt, wie wenig ich den Toten kannte. Wir haben uns auf Familienfeiern getroffen, haben ein paar Mal zusammen angestoßen, und er hat sich nach der Schule und meinen Hobbys erkundigt. Ich habe ihm Fragen über seine Zierfische und sein Joggen gestellt. Dabei habe ich wohl verpasst, ihn nach seiner Jugend oder seinem Erwachsenenleben zu fragen. Auf diese Weise gewinnt das Ganze an Unterhaltungswert.
Nach kurzer Zeit beendet der Pastor jedoch diesen Teil und kommt auf religiöse Fragen zu sprechen. Ich beneide Gläubige um ihren Glauben, es muss wundervoll sein, in der Gewissheit zu leben, dass es mehr gibt als das, was wir wahrnehmen können. Ich kann das nicht. Daher ist der nun folgende vom Pastor vorgetragene Teil für mich nur mäßig interessant. Ich versuche in der letzten Reihe möglichst wenig auffällig zu sein. Beobachte die Menschen um mich herum, um meine Darstellung der Trauer möglichst gut an ihr Verhalten anzupassen.
Der Pastor nähert sich dem Ende, und dann kommt der ungemütliche Teil, alle werden aufstehen und das Gebäude verlassen. Dabei werden sie sich gegenseitig ihre Trauer mitteilen und betonen, wie sehr sie darunter leiden. Da das offensichtlich das normale Prozedere ist, beginne ich während der Rede, mir jemanden zu suchen, dem ich mein tiefes Leiden mitteilen kann. Ich entscheide mich für Oma, sie ist schon leicht schwerhörig und trauert selbst tief. Ich denke, die Chancen stehen gut, dass sie nicht mitbekommt, was ich wirklich empfinde.
Als wir nach der Rede des Pastors der Urne folgen, um diese in die Erde abzusenken, versichere ich meiner Oma, wie sehr ich trauere. Die Urne landet unter der Erde, und ein Bestattungsmitarbeiter schaufelt ein wenig Erde darauf. Er guckt dabei steinern, das Ganze wirkt sehr feierlich. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass ich seit etwa fünfundvierzig Minuten hier bin, vermutlich ist das Ganze also in etwa fünfzehn Minuten gelaufen.
Anschließend reihen sich die Verwandten auf und lassen sich von allen anderen versichern, wie sehr diese unseren Verlust bedauern. Ich mache dabei ein steinernes Gesicht und versuche möglichst betroffen zu gucken. Nachdem diese Prozession vorbei ist, wird verkündet, dass wir zusammen noch in ein Café gehen, um ein gemeinsames Essen einzunehmen. Ich entschließe mich dazu, dem Essen beizuwohnen. Es zeigt soziale Integriertheit und führt dazu, dass man in etwaigen Testamenten eher bedacht wird, als wenn man sämtlichen sozialen Events aus dem Weg geht.
Discoabende – Abseits der Anderen in der Masse stehen
Abends zehn Uhr. Ich habe mich vorher mit Freunden getroffen, wir haben ein bisschen was getrunken. Unser Ziel ist es, eine Disco aufzusuchen. Das war in einer Zeit, als ich tatsächlich noch motiviert war, in eine Disco zu gehen, in der Hoffnung, ich würde tatsächlich einmal den Reiz hinter diesen Abenden verstehen.
Wir sind zu viert, alleine wäre ich nicht bereit gewesen, den Eintritt zu bezahlen. Das Abenteuer beginnt für mich bei den Türstehern, zwei großen, in schwarz gekleideten Typen mit Knöpfen im Ohr. Als ich zu passieren versuche, schaut einer der beiden mir in die Augen. Er meint, ich hätte geweitete Pupillen, was auf Drogen oder Alkoholkonsum schließen lässt. Mühsam kann ich es mir verkneifen, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass erweiterte Pupillen auch einfach darauf hinweisen können, dass es dunkel ist. Ich beteuere also ungefähr sieben Mal, dass ich nicht betrunken bin und nicht unter dem Einfluss von Drogen stehe. Schließlich werde ich endlich in die Disco gelassen.
Die Disco ist auf zwei Stockwerke verteilt. Ein Dancefloor relativ mittig, der zweite Stock ist eine Art größere Empore, von der aus man die Tanzfläche beobachten kann. Die Empore ist so breit, dass an einigen Stellen Tische stehen. Die Musik ist Mainstream, überwiegend HipHop. Der Anteil an geschminkten Frauen mit Miniröcken – oder
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