Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Jugenddiscos oder Einkaufsbummeln mit Freundinnen nichts abgewinnen. Ich war also eine Außenseiterin und wollte wahrscheinlich auch deshalb die »Bösen«, die »Verrückten«, die »Außenseiter der Gesellschaft« verstehen.
Schon damals fiel mir auf, dass auch Serienmörder und andere schwere Verbrecher in ihrer Kindheit oft Außenseiter waren und keine »heile« Familie mit Mutter und Vater hatten. Da war uns etwas gemeinsam. Mir war aber auch klar, dass ich sicher kein Serienmörder werden würde. Warum wurden diese Menschen es dann? Das allein wäre für mich schon Grund genug gewesen, um mich für Verbrechen, deren Ursachen und allgemein für die »Abgründe« der menschlichen Seele zu interessieren.
Ein weiterer Grund – und eine weitere Gemeinsamkeit zwischen meinem Leben und dem vieler schwerer Verbrecher – war das Umfeld, in dem ich aufwuchs, ein veritables Ghetto am Stadtrand mit allen dazugehörigen Problemen: kaputte Familien, unglückliche Ehen, überforderte Alleinerziehende, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogenhandel, Kindesmisshandlung und -missbrauch, Beschaffungskriminalität, Vandalismus, Brandstiftung und Gewalt. Das alles bekam ich von klein auf in meiner unmittelbaren Nachbarschaft mit. Für meine jetzige Tätigkeit und meinen Umgang mit sehr verschiedenen Menschen – ob Künstler, Wissenschaftler oder psychisch erkrankte Patienten, ob Missbrauchsopfer, die sich mir anvertrauen, ohne mich näher zu kennen, oder Straftäter, mit denen ich arbeite – war diese wenig behütete Kindheit jedoch sicher ein Vorteil.
Ist das nicht belastend?
Wie gehe ich nun aber mit dem Grauen und dem Leid um, dem ich in meinem Beruf begegne?
Die ehrliche Antwort ist: Es berührt mich gefühlsmäßig viel weniger als viele andere Menschen. »Schlimme Dinge« sind mir nicht gleichgültig, aber ich bin mit ihnen aufgewachsen. Daher hat sich bei mir früh eine innere Haltung entwickelt, durch die ich solche Dinge einfach sachlich und nicht emotional wahrnehme. Wäre es nicht so, hätte ich sicher eine andere Berufsrichtung gewählt.
Man sucht sich nicht aus, so zu werden; man wird es oder man wird es eben nicht. Ich glaube nicht, dass man sich normale negative Gefühle im Umgang mit schweren Straftaten wirklich »abgewöhnen« kann. Deshalb rate ich Studenten, die in meinen Berufsbereich wollen, so früh wie möglich ein Praktikum in einer Justizvollzugsanstalt, einer Sozialtherapeutischen Anstalt oder im Maßregelvollzug zu machen. Wenn sie merken, dass die Täter und ihre Taten, mit denen sie es dort zu tun haben, sie seelisch belasten, dann rate ich ihnen dringend, die Finger von diesem Berufsfeld zu lassen.
Die »Guten« und die »Sachlichen«
Ich kenne viele Menschen, die als Forscher, Gutachter oder Therapeuten im forensischen Bereich, also mit schweren Straftaten, arbeiten. Wenn man einen dieser Berufe ausüben will, muss man eine sachliche Haltung zu grausamen Verbrechen einnehmen können. Alle Menschen aus diesen Berufsgruppen, die ich jemals näher kennenlernte, verfügen – wenn auch unterschiedlich stark – über diese Fähigkeit: Sie werden nicht jedes Mal von Entsetzen, Wut, Traurigkeit oder Angst gepackt. Meiner Meinung nach macht niemand lange einen solchen Job, der nicht schon vorher charakterlich so beschaffen war.
Anders ist es bei Polizeibeamten, die für das »Gute« kämpfen wollen. Sie finden schwere Straftaten oft ebenso erschütternd wie die meisten anderen Menschen auch. Deshalb sehen sich viele von ihnen als diejenigen, welche die »Bösen« ihrer gerechten Strafe zuführen. Ein Extrembeispiel dafür ist Vernon Geberth, der ehemalige Revierleiter einer Todesermittlungs-Einheit in New York. Vernon ist Autor von Lehrbüchern zu Todesermittlungen und war über vierzig Jahre als Polizeibeamter tätig. Er ist ein freundlicher, gläubiger Mann und zutiefst davon überzeugt, für das »Gute« und gegen das »Böse« zu kämpfen. Obwohl er im Ruhestand ist, lässt ihn seine »Berufung« nicht los. Bis heute treffe ich ihn auf dem Jahreskongress der »Amerikanischen Akademie für forensische Wissenschaften« (American Academy of Forensic Sciences – AAFS).
Vernon hat in seinem Leben unzählige Tötungs- und Sexualdelikte gesehen und bearbeitet, also das »Härteste«, womit sich ein Mensch beschäftigen kann. Sein Glaube an Gott befähigt ihn, damit umzugehen. In der Einleitung zu seinem sehr guten Buch »Sex-Related Homicide and Death Investigation« (Ermittlungen bei sexuell
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