Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
wirklich einmalig. Ob Vergewaltigungen, Kindermorde, Beziehungstaten zwischen Partnern oder Serienmorde – die Medien berichten immer wieder von ähnlichen Fällen.
Abgesehen von den »Bild«-Artikeln archivierte ich auch Fernsehberichte über Kriminalfälle. Jede Woche suchte ich aus der Fernsehzeitung alle Sendungen und Filme heraus, die von Kriminalfällen handelten. Dann nahm ich sie mit unserem größten Luxusgut, einem VHS-Videorecorder, auf. Das hatte auch den Vorteil, dass ich Filme, die nachts liefen, ungestört nachmittags nach der Schule schauen konnte. Die Leercassetten kaufte ich von meinem Taschengeld. So entstand eine Sammlung mit Reportagen und Filmen zu allen denkbaren Verbrechen und anderen Schreckenstaten. Dazu kamen Bücher über echte Kriminalfälle, die mir mehr Informationen lieferten, als es das Fernsehen konnte.
Natürlich blieb das alles nicht lange vor meiner Mutter verborgen. Doch sie fand keinen triftigen Grund, mir dieses eher ungewöhnliche Hobby zu verbieten. Es verursachte mir ja keine Albträume oder Ängste. Stattdessen erklärte ich ihr, dass ich verstehen wolle, warum Täter das tun, was sie tun. So saß ich lieber zu Hause und beschäftigte mich mit meinem »Kriminalarchiv«, als mit anderen Kindern zu spielen. Letztlich konnte meine Mutter mir auch keine vernünftige Freizeit-Alternative anbieten. Im Grunde war sie wohl froh, dass ich auf diese Weise im Ghetto nicht in »schlechte Gesellschaft« geriet.
Mein alter Freund Hannibal
So begegnete ich im zarten Alter von elf Jahren zum ersten Mal Hannibal Lecter – einem der wohl bekanntesten Psychopathen der Filmgeschichte. Der Film machte mir keine Angst, er faszinierte mich. Eine Faszination, die bis heute anhält. Ich nutze meinen »alten Freund« Hannibal bei Kriminalpsychologieseminaren, wenn ich das Thema »Psychopathen« behandle. Die Figur hat eine Menge von dem, was Psychopathen zu einem spannenden Thema macht: Lecter ist kaltblütig, gewissenlos und selbstverliebt. Er kann andere Menschen mit seinem Charme um den kleinen Finger wickeln, und nur eine Minute später konfrontiert er sie gezielt mit ihren größten Schwächen und trifft sie damit bis ins Mark.
Der Begriff »charmante Bestie« ist, auf Psychopathen bezogen, in den meisten Fällen zutreffend. Sie scheinen zwei Gesichter zu haben: Einerseits sind sie freundlich, einnehmend und scheinbar am Gegenüber interessiert. Andererseits scheuen sie keine Sekunde davor zurück, auch Menschen, die ihnen nahestehen, zu schaden, wenn sie dadurch einen persönlichen Vorteil haben oder wenn sie sich von diesen enttäuscht fühlen.
Seit dieser ersten Begegnung mit Hannibal Lecter wollte ich wissen, wie »echte« Psychopathen sind. Mir war klar, dass sie sicher nicht alle so reiche, hochgebildete Menschen sein können. Doch wer sind sie in Wirklichkeit? Wie schaffen sie es, alle Menschen in ihrer Umgebung zu täuschen? Warum können sie so schnell das Vertrauen und die Sympathie anderer Menschen gewinnen, während sie gleichzeitig ohne Mitgefühl und ohne Schuldgefühl, bösartig und grausam sind?
Kalte Seelen
In den meisten Fällen sind Psychopathen nicht einmal überdurchschnittlich intelligent. Doch oft haben sie ein gutes Gespür dafür, was in anderen Menschen vorgeht. Dadurch sind sie in der Lage, anderen »normale« Gefühle vorzutäuschen, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Was macht diese Menschen aus, die nach außen so viel vorspielen und in ihrem Inneren meist kalt wie ein Eisblock sind? Was sind ihre charakterlichen »Grundbausteine«?
Einige dieser Bausteine sind nur schwer für einen normalen Menschen nachzuvollziehen, andere kommen auch bei Menschen vor, die weder psychopathisch noch kriminell sind. Sie werden im weiteren Verlauf dieses Buches feststellen, dass auch Menschen, die Sie kennen, vielleicht die eine oder andere »psychopathische« Eigenschaft haben. Das bedeutet aber nicht, dass sie damit gleich psychopathisch sind. Nicht die einzelne Eigenschaft macht einen Psychopathen aus, sondern die Mischung aus vielen auffälligen Eigenschaften. Straftäter haben oft mehr psychopathische Eigenschaften als Menschen, die nie kriminell werden. Trotzdem vereinen nur wenige Straftäter so viele dieser Eigenschaften in sich, dass sie »echte« Psychopathen sind. Damit Sie lernen, die feinen Übergänge von »sonderbar« zu »psychopathisch« zu verstehen, werde ich Sie in diesem Buch Kammer für Kammer durch das »Innenleben« psychopathischer Menschen
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