Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
anderen versichern, wie sehr diese unseren Verlust bedauern. Ich mache dabei ein steinernes Gesicht und versuche möglichst betroffen zu gucken. Nachdem diese Prozession vorbei ist, wird verkündet, dass wir zusammen noch in ein Café gehen, um ein gemeinsames Essen einzunehmen. Ich entschließe mich dazu, dem Essen beizuwohnen. Es zeigt soziale Integriertheit und führt dazu, dass man in etwaigen Testamenten eher bedacht wird, als wenn man sämtlichen sozialen Events aus dem Weg geht.
Discoabende – Abseits der Anderen in der Masse stehen
Abends zehn Uhr. Ich habe mich vorher mit Freunden getroffen, wir haben ein bisschen was getrunken. Unser Ziel ist es, eine Disco aufzusuchen. Das war in einer Zeit, als ich tatsächlich noch motiviert war, in eine Disco zu gehen, in der Hoffnung, ich würde tatsächlich einmal den Reiz hinter diesen Abenden verstehen.
Wir sind zu viert, alleine wäre ich nicht bereit gewesen, den Eintritt zu bezahlen. Das Abenteuer beginnt für mich bei den Türstehern, zwei großen, in schwarz gekleideten Typen mit Knöpfen im Ohr. Als ich zu passieren versuche, schaut einer der beiden mir in die Augen. Er meint, ich hätte geweitete Pupillen, was auf Drogen oder Alkoholkonsum schließen lässt. Mühsam kann ich es mir verkneifen, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass erweiterte Pupillen auch einfach darauf hinweisen können, dass es dunkel ist. Ich beteuere also ungefähr sieben Mal, dass ich nicht betrunken bin und nicht unter dem Einfluss von Drogen stehe. Schließlich werde ich endlich in die Disco gelassen.
Die Disco ist auf zwei Stockwerke verteilt. Ein Dancefloor relativ mittig, der zweite Stock ist eine Art größere Empore, von der aus man die Tanzfläche beobachten kann. Die Empore ist so breit, dass an einigen Stellen Tische stehen. Die Musik ist Mainstream, überwiegend HipHop. Der Anteil an geschminkten Frauen mit Miniröcken – oder sonst wie aufreizend hergemacht – hält sich ungefähr die Waage mit den Angehörigen männlichen Geschlechts in entsprechender Ausstattung: Baggy-Hosen, Goldkettchen, Sonnenbräune und einige Stunden Fitnessstudio. Der größte Teil davon mit Migrationshintergrund.
Das ist, was ich etwa in den ersten fünf Minuten in diesem Laden erfahre. Bin direkt oben auf die Empore gegangen – wegen der Übersicht – und beobachte nun Menschen bei ihrem Paarungstanz. Die Bewegungen kann ich nicht nachvollziehen, weiß nicht, wie man auf die Idee kommt, sich so zu bewegen. Ich denke, alle Menschen hier können »loslassen« und sich einfach treiben lassen. Ich kann das nicht, ich kann nichts »loslassen«, weil ich nichts festhalte.
Nach der Übersicht beginne ich mich zu langweilen. Es ist zu laut, um sich wirklich zu unterhalten. Selbst wenn es leise wäre, sind die meisten hier vermutlich nicht an Diskussionen auf hohem Niveau interessiert. Nach sieben Minuten frage ich mich, warum ich acht Euro Eintritt gezahlt habe, nur um jetzt herumzustehen und mich zu fragen, was ich hier soll.
Ich habe meinen Freunden – wie immer an solchen Abenden – zugesagt, ich würde mindestens eine halbe Stunde bleiben. An der Empore lehnend, die Menschen beim Paarungstanzen beobachtend, irgendeiner furchtbar verhunzten Version von »We Will Rock You« lauschend, beginne ich zu rechnen. Sieben Minuten hier, dreißig Minuten zugesagt, bedeutete noch dreiundzwanzig Minuten. Dreiundzwanzig mal sechzig: eintausenddreihundertachtzig Sekunden noch in diesem Laden.
Ich beginne zu zählen. Beobachte dabei weiter Menschen und versuche mich daran, die Körpersprache der Tanzenden zu interpretieren. Abneigung, Zuneigung, eine eventuelle Bereitschaft, den Tanz in die Horizontale zu verlagern. Zudem versuche ich zu erkennen, ob es Paare auf der Tanzfläche gibt. Im Hintergrund laufen die Zahlen langsam hoch in Richtung eintausenddreihundertachtzig. Meine Freunde haben sich längst in die Menge der Tanzenden gemischt, aus ihren Gesichtern und der Körperhaltung schließe ich, dass sie Spaß haben.
Meine Überlegung nun ist relativ einfach: Ich bin komplett von meinem Kopf beherrscht. Wenn es mir gelingt, den Alkoholkonsum hochzuschrauben und meinen Kopf herunterzufahren, sollte ich in der Lage sein, genau wie jeder andere auch, den Paarungstanz aufzuführen und einfach dazuzugehören. Ich hatte diesen Gedankengang schon vorher, daher hatte ich auch schon einiges getrunken. So entschließe ich mich also, noch etwas mehr zu trinken, und begebe mich zur Theke.
Meine Entscheidung
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