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Auf einmal ist Hoffnung

Titel: Auf einmal ist Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burk Michael
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sie sich jetzt leise davonstehlen wollte, sprach er sie an: »Nein, bleiben Sie.« Er setzte sich und deutete auf den viktorianischen Stuhl. »Ich möchte mit Ihnen reden.« Es klang ernst.
    Er wartete, bis sie sich ebenfalls gesetzt hatte, und begann beinahe tonlos: »Sie kennen Jenny jetzt seit neunzehn Jahren. Sie haben sie als dreijähriges Kind erlebt. Waren dabei, als sie in die Elementary School kam. Und so weiter und so fort. Sie überblicken absolut ihren bisherigen Lebensweg. Sie haben am darauffolgenden Tag hier im Laden ihre Freude miterlebt, nachdem ich sie am Abend zuvor zum erstenmal in eine Ballettaufführung mitgenommen hatte. Und Sie können beurteilen, wie sehr ich mein Kind liebe und wie sehr mir daran liegt, daß Jenny glücklich ist.«
    Er machte eine Pause und sah sie an.
    Sie hielt seinem Blick stand, aber sie schwieg, denn sie wartete auf eine Frage.
    »Glauben Sie, daß Jenny glücklich ist?« fragte er verhalten.
    »Zweifeln Sie daran, Sir?« Sie war erstaunt.
    »Ich möchte von Ihnen eine Antwort haben.«
    Sie brauchte nicht lange nachzudenken und sagte offen: »Ja, ich glaube schon, daß Jenny glücklich ist.«
    »Was aber macht sie vor allem glücklich?« fragte er weiter und ließ keinen Blick von ihr, als wolle er die Antwort schon an ihrem Gesichtsausdruck ablesen.
    Sie dachte angestrengt nach und sagte schließlich unschlüssig: »Ich glaube, daß zu Jennys Glück sehr viel Sie beitragen, Sir.«
    »Und außer mir?« fragte er besonnen. »Wer oder was macht sie außer mir glücklich?«
    Wieder zögerte sie, bis sie sagte: »Ganz sicher das Ballett.« Sie merkte, daß er plötzlich betroffen wirkte, und setzte unsicher hinzu: »Oder sind Sie nicht dieser Meinung, Sir?«
    Er schwieg, senkte den Blick, war eine Weile in sich gekehrt. Dann sah er sie bewußt an: »Ist es tatsächlich das Ballett?« Es klang, als resigniere er.
    Eine Weile war es still im Raum. Sie saß regungslos, nur ihre Augen folgten ihm, als er aufstand und zu dem Schrank ging, in dem die Expertisen aufbewahrt wurden. Er öffnete ihn, zog ein großes braunes Kuvert heraus und gab es ihr in die Hand. »Überzeugen Sie sich, ob Jenny tatsächlich glücklich ist. Es sind wahllos zusammengesuchte Ballettaufnahmen, Amateuraufnahmen, Bühnenfotos, Porträts. Nicht auf einem einzigen Bild macht sie den Eindruck eines glücklichen jungen Menschen.« Er sprach gefaßt, aber seine Stimme klang noch brüchiger als gewöhnlich.
    May Tsang zog befangen wahllos zwei Aufnahmen halb aus dem Kuvert, warf einen flüchtigen Blick darauf und stimmte ihm verlegen zu: »Sie haben recht, Sir.« Doch im gleichen Atemzug schränkte sie ein: »Ist sie nicht grundsätzlich ein ernster Typ?« Sie reichte ihm das Kuvert zurück.
    »Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß auch das Ballett sie bisher nicht zu einem frohen, unbeschwerten Menschen gemacht hat.« Er nahm das Kuvert, legte es wieder in den Schrank und sperrte ihn ab. Er sah auf einmal älter aus als seine achtundsechzig Jahre.
    Sie erschrak, aber sie zwang sich, es sich nicht anmerken zu lassen.
    Er ließ sich schweratmend auf seinem Stuhl nieder und sagte leise mehr zu sich selbst: »Ich glaube, das Ballet! strengt sie zu sehr an.«
    Sie schwieg. Ihr Blick war ängstlich auf ihn gerichtet. Sie befürchtete, daß ihm übel werden könne. Doch sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da kam wieder Blut in sein Gesicht. Unwillkürlich atmete sie auf.
    Er sah sie lange an, ehe er bedrückt weitersprach: »Sie ist jetzt zweiundzwanzig. Und hat vom Leben noch nichts gehabt.« Er beugte sich über den schmalen Tisch und setzte eindringlich hinzu: »May, meinen Sie nicht auch, es wäre besser, wenn sie aufgeben würde?«
    »Aufgeben? Jenny?« Es klang verwundert.
    »Sie tanzt jetzt seit beinahe zehn Jahren. Und gönnt sich keine Pause. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie auf diese Weise glücklich wird.« Er sprach leise und fügte verschwörerisch hinzu: »May, ich habe eine Bitte, eine große Bitte.«
    Ihr Blick war erwartungsvoll.
    »May, sprechen Sie mit Jenny. Sagen Sie ihr, daß das Ballett-Training nicht gut für sie ist. Nicht für ihre Psyche und auch nicht für ihre körperliche Verfassung. Machen Sie ihr klar, daß es zu sehr anstrengt, den zarten Körper überfordert, die Muskeln unweiblich verhärtet. Reden Sie ihr eindringlich zu, das Training sofort aufzugeben.« Er zögerte, bevor er geradezu beschwörend auf sie einsprach: »Setzen Sie Ihre ganze Überzeugungskraft

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