Auf ewig und einen Tag - Roman
Hände an ihre gedunsene Wange und hielt sie dort fest. »Du gehst jetzt, aber du wirst nicht vergessen, weil noch zu viel Unausgetragenes in dir ist. Du gehst, und vielleicht ist das gut so, weil es hier im Moment zu schwer für dich ist, aber über kurz oder lang kommst du zurück, weil du das musst. Das wirst du wissen, wenn es so weit ist. Du wirst dich erinnern, warum du dich leer und fremd fühlst, und dann kommst du zurück, wenn du für die nächsten Schritte bereit bist.«
Ich blieb lange sitzen und sah sie an, eine Hand immer noch an ihrer Wange, die andere in ihrer Hand. Schließlich drückte ich den Kopf an ihre Brust und ließ mich von ihr halten. Wir wiegten uns. Wir wiegten uns so lange, bis es nichts mehr gab außer dieser Bewegung.
SECHS
Schutzschirme über der Seele
Juni 2007
34
Es war eine Stunde nachdem unsere Mutter gegangen war, und Eve und ich saßen mit LoraLee auf Eves Bett. LoraLee reichte die Briefe zurück, die ich ihr gegeben hatte, und ich schüttelte den Kopf. »Warum?«, flüsterte ich. »Wie?«
»Sie ist zu mir gekommen«, sagte LoraLee. »Als euer Daddy gestorben ist, ist sie auf die Insel gekommen, weil sie sicher sein wollte, dass für euch gesorgt wird. Sie hat mich mit euch gesehen, gesehen, dass ich für euch da bin, und zu mir gesagt, du schuldest mir gar nichts, kennst mich nicht von Adams Zeiten an, aber ich werd’ dich um den größten Gefallen bitten, um den ich je jemanden gebeten hab. Sie hat gesagt, jedes Jahr hab ich einen Brief bekommen, der mir gezeigt hat, dass es richtig war, wegzugehen. Jetzt ist er tot, und ich krieg keine Briefe mehr.«
»Also hat sie dich benutzt, um ihr Gewissen zu erleichtern«, sagte ich.
LoraLee sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Da täuschst du dich, Kind. Ihr tut jeden Tag das Herz weh wegen dem, was sie getan hat. Sie hat zu mir gesagt, diese Kinder sind das einzige Gute, was ich auf dieser Welt zuwege gebracht hab, und nicht mal mit ihnen hab ich’s richtig gemacht.«
»Sie hat’s noch nicht mal versucht!«
»Sie versucht, ihr Bestes zu geben, Kerry. Was zählt, ist, dass ihr seht, wie eure Momma euch immer noch liebt, und wie euer Daddy eure Momma geliebt hat, selbst wenn sie nichts getan
hat, was diese Liebe verdient hätte. Und eines Tages, Kind, denk ich, dass auch ihr merkt, wie ihr eure Momma immer noch liebt. Das hört nie auf.«
»Nach dem, was sie getan hat …«
»Nach dem, was sie getan hat, mein Gott. Ich will dir mal was sagen, Kerry, und das ist die wichtigste Lektion, die mir das Leben erteilt hat. Wenn du einen Menschen aufrichtig liebst, hört das nie auf.« Sie sah mich scharf an. Ihre Stimme klang sanft und tief. »Jeder, den du liebst, jeder, der dich liebt, legt ein Licht wie einen Schutzschirm über deine Seele. Deine Seele besteht aus diesen Schutzschirmen, einer über dem anderen, und du kannst dich abwenden, sie vergessen oder mit Ärger zudecken. Du kannst die Augen davor verschließen, aber wenn du sie irgendwann wieder aufmachst, ist das Licht immer noch da. Das Licht ist immer noch da, und du leuchtest immer noch. Genauso funktioniert das, wenn man ein Mensch ist. Die Liebe wird ein Teil von dir.«
Eve nahm einen Staubfussel von ihrem Laken und sah ihn lächelnd an. Ich beobachtete sie eine Weile, dann kniff ich die Augen zu. »Wie konntest du das vor uns verheimlichen, LoraLee? All die vielen Male, die ich mit dir über meine Mutter geredet habe, und du hast geseufzt und den Kopf geschüttelt, als hättest du Mitleid mit mir.«
»Ich hab auch Mitleid gehabt mit dir. Das hört sich vielleicht schäbig an, aber hier gibt’s keine guten Antworten. Man hat einfach warten und hoffen müssen, dass sie reifer wird und sich euch dann stellt, wenn ihr alt genug und verständiger seid. Bis dahin war’s besser, in dem Glauben leben, dass sie hier wäre, wenn sie könnte. Es war besser zu glauben, sie weiß nicht, wo ihr seid.«
»Sie hat recht, weißt du.« Eve griff nach ihrem Wasser, trank es in drei großen Schlucken aus und legte sich dann wieder zurück in ihre Kissen. »Sie wusste, dass Daddy tot war, und brachte es dennoch nicht über sich, uns wieder in ihr Leben aufzunehmen. Wenn wir das erkannt hätten, hätten wir uns nicht so wertlos gefühlt.«
»Aber wir haben uns wertlos gefühlt.«
Eve sah mich an, ohne etwas zu erwidern. Kurz darauf stand LoraLee auf. »Ich lass euch beide jetzt allein.«
»Du kannst jetzt nicht gehen, nicht bevor du es uns erklärt hast. Warum ist
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