Auf ewig und einen Tag - Roman
sie gerade jetzt gekommen? Was erwartet sie von uns?«
»Sie erwartet gar nichts, Kind. Sicher, sie will Vergebung, aber das liegt in euren Händen.« LoraLee schickte sich an hinauszugehen, dann hielt sie plötzlich inne und drehte sich noch einmal um. »Ich hätte gern mehr für euch getan, hätte euch früher sagen können, dass sie an euch denkt. Aber ich kann nur noch mal sagen, sie hat ihr Bestes getan, so gut sie’s eben gekonnt hat. Erinnert ihr euch noch an das Geld vor eurer Tür? Es war von eurer Momma.«
»Nein«, antwortete ich. »Du hast uns das Geld gegeben, die braunen Umschläge. Wir haben gesehen, wie du es auf die Matte gelegt hast.«
LoraLee zog die Augenbrauen hoch. »Von eurer Momma. Sie hat damals studiert, was gelernt, damit sie ein besseres Leben hat, und sie hat nicht viel übrig gehabt, aber was sie gehabt hat, hat sie euch geschickt.« LoraLee lächelte und ging zur Tür. »So gut sie’s eben gekonnt hat, vergesst das nicht. Mehr kann einer nicht tun.«
Wir sahen ihr nach. »Alles in Ordnung mir dir?«, fragte Eve schließlich.
»Das ist noch schlimmer«, flüsterte ich. »Zu wissen, dass sie glaubte, ihre einzige Verpflichtung bestehe darin, uns Geld zu schicken, das ist wirklich noch schlimmer.«
»Ich glaube nicht, dass es so ist. Sie hat unsere Zähne aufgehoben, Kerry.«
Ich starrte sie an, und sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, ich hasse sie immer noch, weil sie fortgegangen ist, aber das alles jetzt hilft mir, sie besser zu verstehen.« Sie drehte sich zu mir und sah mich an. »Ich hab ihre Augen gesehen, Kerry. Ich dachte, sie hätte die leeren Augen, wie man sie von Junkies oder Serienmördern kennt, aber so waren sie ganz und gar nicht.« Sie lächelte schief. »Es waren meine Augen.«
Eve hatte recht, wenn ich mir jetzt die Augen unserer Mutter vorstellte, waren es Eves Augen, immer noch hart, sogar angesichts des nahen Todes. Selbst ihre Tränen wirkten resolut. »Ich hätte mir gewünscht, sie hätte schuldbewusster ausgesehen«, sagte ich, »als hätte sie verstanden, was sie getan hat.«
»Sie versteht es, glaube ich, aber sie übernimmt keine Verantwortung. Und ich schätze, ich brauche sie nicht mehr. Schuld ändert gar nichts, sagt Justin immer.« Sie zuckte die Achseln. »Wie auch immer, es tut mir nicht mehr weh. Mit allem, was sie getan oder nicht getan hat, beginne ich mich abzufinden. Noch vor Monaten hätte mich das wahrscheinlich so wütend gemacht, dass ich explodiert wäre. Aber jetzt …« Sie starrte in ihr leeres Wasserglas, dann stellte sie es auf den Nachttisch zurück. »Jetzt beginne ich zu begreifen, dass Menschen tun, was sie tun müssen. Niemand will dich bewusst verletzen, sie wissen es einfach nicht besser. Sie versuchen bloß, sich selbst zu helfen.«
Ich wischte das Wasser ab, das auf ihren Kragen getropft war, dann legte ich mich neben sie.
»Ich hab darüber nachgedacht«, fuhr sie fort. »Dass wir Zwillinge sind, also biologisch, genetisch gleich sind. Und als wir geboren wurden, hatten wir das gleiche Potenzial, Gutes zu tun, ehrlich und aufrichtig zu sein, den ganzen Mist eben. So hätte ich werden sollen, das wollte ich auch. Aber irgendwann im Lauf der Zeit, ohne eine bewusste Entscheidung von mir, haben wir uns in verschiedene Richtungen entwickelt.«
Sie sah mich an, dann schüttelte sie den Kopf. »Also hab ich nach einem Grund gesucht und bin darauf gekommen, dass ich mich vielleicht schuldiger fühlte. Mom ging fort, und ich dachte von Anfang an, ich sei schuld daran.« Ihre Stimme zitterte, und sie räusperte sich. »Dass sie irgendwie diese … Hitze spürte, die ich in mir hatte, diese Gier - ich wollte alles.«
»Das ist doch verrückt, Eve«, sagte ich.
»Ich sag dir nur, was ich dachte. Doch schließlich ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung daraus geworden. Man konzentriert sich auf die schlechten Teile an sich, auf die bösen Gedanken, und sie nehmen zu.« Sie griff nach dem Knopf, der ihre Medizindosierung regulierte. Als der gedämpfte Piepton erklang, atmete sie mit einem rasselnden Geräusch aus. »Wenn man sich selbst als schlechten Menschen sieht, tut man tatsächlich alles, um seine inneren Erwartungen auch zu erfüllen. Es ist in Ordnung zu lügen, zu stehlen, mit Lügen der Schwester den Freund auszuspannen, weil man nicht anders kann. Weil man eben so ist.«
Ich zog die Beine an die Brust. Eves Augen waren glasig. »Mom ist weggegangen, weil sie sich nicht überwinden konnte zu bleiben.
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