Auf Forsters Canapé: Liebe in Zeiten der Revolution (German Edition)
Reiseeindrücke aus der Provinz?
Anfang Dezember flüchtete sie, Mutter und Schwestern im Schlepptau, nach Paris, dem Hauptschauplatz des Revolutionsdramas.
Die Stadt hatte sich verändert. Viele Aristokraten waren mittlerweile nach Wien oder in die rheinischen Bistümer Koblenz, Worms, Speyer und Mainz emigriert, wo sie zum Ärger der Einheimischen arrogant und großspurig auftraten und ihre Gastgeber zum Krieg anzustacheln suchten. Helen trauerte dem Prunk von Kutschen und kostbaren Roben nicht nach, auch nicht der höfischen Galanterie, die mit ihnen entschwunden war. Die neue revolutionäre Antimode war allerdings auch nicht wirklich nach ihrem Geschmack. »Jedermann bemüht sich zu demonstrieren, daß er so wenig Zeit wie möglich auf seine Toilette verschwendet und sein Geist mit Wichtigerem als der Verschönerung seiner Person beschäftigt ist.« Viele Männer hielten schon Sauberkeit für aristocrate.
Die Lust der Pariser an Vergnügungen war ungebrochen. Die Cafés waren voll wie eh und je und die Theater – es gab um die zwanzig – jeden Abend ausverkauft. Selbst zu Weihnachten, wie Helen wehmütig feststellte. An diesen Tagen wäre sie gern in England gewesen, wo das Fest stimmungsvoll im Familienkreis gefeiert wurde. Silvester war es dann wieder hübscher in Paris. Gegen acht Uhr ging sie mit den Schwestern zum Palais Royal, wo viele Menschen unterwegs waren. Die meisten Läden warenhell erleuchtet und prächtig dekoriert, besonders die Confiserien. »Sie sind mit verzierten Glasbehältern voller Süßigkeiten und mit vielen hübschen Kleinigkeiten gefüllt, die die Leute kaufen und ihren Freunden zum Geschenk machen.«
Regelmäßig besuchte Helen das Lyzeum, eine Art offener Universität, die schon vor der Revolution gegründet worden war. Zu den Vorlesungen von Fachgelehrten (Philosophie, Chemie, Naturgeschichte, Botanik, Geschichte, Literatur) hatten auch Frauen Zutritt, was sie fleißig nutzten. »Selbst bei anatomischen Vorlesungen und bei den zartesten Zweigen der Zergliederungskunst, fehlte es nie an vielen liebenswürdigen Zuhörerinnen, welche in angestrengtester Aufmerksamkeit sich mit der innern und äußern Struktur der schönen, ihnen wohlbekannten menschlichen Formen vertraut zu machen suchten«, berichtete ein Reisender.
Ab und zu ging sie auch zu den Debatten der Nationalversammlung, die nicht weit von ihrer Wohnung entfernt in der Manege, dem ehemaligen Reitsaal des Tuilerien-Schlosses, tagte.
Die 745 Abgeordneten, die ein Jahr lang gesetzgeberisch tätig sein sollten, gehörten zu drei Lagern, die freilich in sich keineswegs einheitlich waren:
Eine gemäßigte Rechte vom Klub der Feuillants (so genannt nach ihrem Tagungsort, einem ehemaligen Zisterzienserkloster). Für sie war die Revolution mit der gerade etablierten konstitutionellen Monarchie an ihr Ziel gekommen.
Eine Linke, viele von ihnen Mitglieder des Jakobinerklubs, die die Revolution durch die Royalisten um Hof und König gefährdet sah. Ihr radikaler Flügel wollte Frankreich zur Republik machen. Sie wurde von Abgeordneten aus der Gironde und dem Süden dominiert und nach ihnen als Brissotins oder Buzotins oder Rolandins bezeichnet. Der Name Girondisten bürgerte sich erst etwas später ein [ 16 ] .
Und dazwischen eine breite Mitte von unabhängigen Deputierten, um deren Stimmen beide Lager warben.
Als die Abgeordneten die Konfiszierung der Emigrantenvermögen berieten und beschlossen, war Helen unter den Zuhörern. Sie war auch dabei, als die Fahnen Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika feierlich in das Kloster St. Jacques gebracht wurden, wo die Jakobiner tagten. »Sobald die Farben sichtbar wurden, hallte der Saal vom Beifallgeschrei der mehr als zweitausend anwesenden Personen wider, die sich sofort von ihren Sitzen erhoben hatten. Die Männer schwenkten ihre Hüte und riefen immer wieder Vive la liberté – Vive l'Angleterre – Vive la France – Vivent les nations libres! Beim Anblick dieser Banner – so oft die Symbole des Krieges, der Verzweiflung, des Schreckens –, die nun zum verpflichtenden Zeichen von Frieden, gutem Willen und Einigkeit zwischen den Nationen geworden waren, schien jedes Herz von heiligem Enthusiasmus erfüllt, und jedes Auge schmolz in Tränen dahin.«
Dabei standen die Jakobiner besonders im Ausland keineswegs für Versöhnung, sondern für Umsturz und Klassenkampf. »Jedes Verbrechen, jede Ungeheuerlichkeit wird dieser Gesellschaft zugeschrieben,
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