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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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also mit Noga zusammen, Ofir trieb sich mit anderen Freunden herum, und die schlichte Wahrheit war, dass Gabi es mochte, allein zu sein. Sich abzukapseln. Langsam den Berghang hinaufzuklettern, seinen Schatten auf der Erde zu beobachten, wie er im Licht der Sonne, des Monds oder der Straßenbeleuchtung fiel. Nachzudenken. Mit sich selbst zu reden. Dinge zu entdecken und zu finden.
    Am Berg fand er den Falken. Der Falke war am Bein verletzt, vielleicht hatte ihn eine Schlange gebissen? Oder ein größeres Tier im Kampf verwundet? Gabi sah den Falken auf dem Boden liegen, mit dem Kopf ruckend und leicht mit den Flügeln flatternd, und er trat näher, betrachtete ihn, wusste nicht, was er mit ihm machen sollte, setzte sich auf einen Felsen ihm gegenüber und schaute. Und als er sah, dass der Falke ihm nichts anhaben konnte, näherte er sich wieder, kniete sich neben ihn und streckte einen Finger nach seinem Kopf aus. Bei den ersten Malen scheute der Falke vor dem Finger zurück, doch wirklich bewegen konnte er sich nicht. Gabi sah, dass sein Bein gebrochen war. Nach einigen Versuchen streichelte er den Kopf des Falken und hob ihn vorsichtig hoch. Der Falke flatterte panisch mit den Flügeln und versuchte sich zu widersetzen, aber Gabi sprach beruhigend auf ihn ein, »schschsch … schschsch …«, und machte sich auf den Weg hinunter zum Kibbuz.
    Er quartierte den Falken in einem Raum ein, der nicht benutzt wurde, ein kleines Lager im Kinderhaus. Danach ging er mit Jotam in den Speisesaal. Er erzählte ihm von dem Falken, und Jotam verlangte begeistert, ihn sehen zu dürfen. Gabi erwiderte, er würde ihm den Vogel nach dem Essen zeigen, und fragte, wie sie herauskriegen könnten, was er fraß. Jotam sagte, es gebe im Zimmer seiner Eltern eine Enzyklopädie der Vögel, und wenn sie dort nichts fänden, würde er seinen Vater fragen. »Okay«, antwortete Gabi, »vielleicht bringst du die Enzyklopädie mit, damit wir auch sehen können, wie ein Falke genau ausschaut. Ich glaub, dass es ein Falke ist, aber woher soll ich das wissen, wir sehen sie immer nur von weitem, am Himmel.«
    Als Gabi mit dem Falken vom Berg herunterkam, hatte er eigentlich gedacht, er würde niemandem davon erzählen, es sollte sein privates Geheimnis bleiben, und er würde den Falken zu geheimen Spionagemissionen losschicken, Zettel und Botschaften durch ihn an seine Mitverschworenen überbringen. Aber an jenem Abend fühlte er sich wie ein Glückspilz, weil er es ausgerechnet Jotam erzählt hatte. Nicht nur war sein Vater ein Vogelliebhaber und hatte eine Enzyklopädie, die ihnen bestätigte, dass es ein Falke war, und eine Menge Informationen lieferte, sondern Jotam erinnerte sich auch dunkel daran, dass es im Lager seiner Eltern einen großen Käfig gab, der einmal das Zuhause von zwei Papageien, Pinches und Simches, gewesen war, die sein Vater gehalten hatte, als Jotam noch klein war. Jotam fand ihn, ein bisschen verrostet und schmutzig, nicht besonders groß, aber hervorragend geeignet als erste Behausung für den Falken, und er brachte ihn in ihr Zimmer.
    Es stellte sich heraus, dass sie Tauben finden mussten, deren Fleisch, wie Jotams Vater sagte, während er dem Spiel von Maccabi Tel Aviv gegen Squibb Cantu zusah, die Falken mochten. Die Enzyklopädie bot weitere Möglichkeiten an: Tausendfüßler, Skorpione, Eidechsen, Schlangen, Frösche, Fledermäuse und Heuschrecken. Doch Tauben erschienen Jotam und Gabi schmackhafter und leichter zu beschaffen, es gab zahlreiche Tauben im Kibbuz, auf den Dächern und den Strommasten. Jotam und Gabi suchten ihre größten Steinschleudern heraus – selbst gebastelt, aus farbigen plastikbeschichteten Elektrodrähten, die im Kibbuzgelände von Arbeitern der Strom- oder Telefongesellschaft weggeworfen worden waren – und gingen zum Feld neben dem Kinderhaus. Die Tauben saßen gemütlich auf den Hochspannungsleitungen. Die Jungen ließen sich nieder, schälten eine Clementine und begannen, mit zusammengedrückten Schalenstückchen zu schießen – ein flinkes, exaktes und leicht verfügbares Geschoss.
    Sie trafen nicht. Jotam steckte sich eine Clementinenspalte in den Mund und sagte: »Das funktioniert nicht.« Gabi stimmte ihm zu und nahm sich zwei Spalten. Sie aßen stumm, die Tauben gurrten über ihnen. »Was frisst der Falke noch gern?«, fragte Jotam.
    »Noch kompliziertere Tiere als Tauben.«
    »Versuchen wir es mit Steinen«, schlug Jotam vor und hob einen Stein auf.
    Die Steine trafen nicht. Sie

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