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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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der ihn gepackt hatte, und ein Fahrer, denn der Mann blieb während der Fahrt neben ihm. Vielleicht gab es noch jemanden. Er versuchte, nicht an das Zeug zu denken, das man ihm in den Mund schob, und den Gestank und den ätzenden Geschmack auszusperren. Jahre später begriff er, dass die Augenbinde die Rettung gewesen war, denn Ekel vor irgendeiner Nahrung hat normalerweise nichts mit dem Geschmack zu tun, sondern mit dem Anblick. Dennoch verstand er, was sie taten. Er spürte Ameisen auf seinen Händen und anschließend auf seiner Zunge. Die Käfer identifizierte er, vielleicht ein Erinnerungsblitz der Geschmacksdrüsen von seinem Experiment als Kleinkind. Der Rest fühlte sich für ihn nach Sachen an, die man im Allgemeinen nicht in den Mund steckt – zu trocken, zu glatt, zu beißend –, doch er versuchte, nicht zu denken, aß, erbrach sich, aß, übergab sich. Sie ließen ihn draußen vor dem Zimmer seiner Adoptiveltern zurück, gefesselt und mit verbundenen Augen.
    Das letzte Mal, dass er in diesem Krankenhaus gewesen war, war ungefähr zwei Monate davor gewesen, als ihn seine Eltern, seine Lehrer, mehr oder weniger der ganze Kibbuz, gezwungen hatten, Ejal zu besuchen. Vater Jossi ging mit. Sie traten an sein Bett, und alles, was Gabi sah, waren Ejals Augen, umrandet von schwarzen Ringen. Der Rest des Gesichts befand sich in Gips, und sein übriger Körper verschwand in dem kleinen Kinderbett. Das war einige Wochen nach Schuljahresanfang, und Ejal hatte die zweite Klasse noch nicht begonnen, aber Kinder und Lehrer von seiner Klasse kamen an sein Bett, lernten mit ihm, erklärten und erzählten. Ejals Augen blickten ihn an, kalt und erloschen. Sie sahen ganz anders aus als die ungebärdigen Augen voller Mut, die ihn neben dem Frischkäse anschauten, als Ejal Gabi »Klauengebiss« nannte. Die Szene erheiterte Gabi und erfüllte ihn mit Befriedigung, doch er gab sich Mühe, es nicht zu zeigen. Ejals Mutter und Vater, die beide Jona hießen, ein interessantes Zusammentreffen von Zufällen und Quelle zahlreicher Witze im Kibbuzblättchen und im Speisesaal, standen auf der anderen Seite des Bettes. Vater Jossi drückte ihm die Schulter. Gabi blickte die Eltern an und dann Ejal.
    »Entschuldigung«, sagte er, doch dann konnte er sich nicht mehr beherrschen und brach in Lachen aus.
    Vater Jossi schnauzte: »Gabi!« Ejal wandte den Blick ab, und seine Eltern schüttelten erschüttert den Kopf.
    Nach der Entführung waren alle sicher, dass das die Rache von jemandem war, der Ejal nahestand. Es gab keinen anderen Grund, sich auf eine solche Art an Gabi zu rächen. Natürlich untersuchte niemand die Sache, keiner dachte daran, sich bei der Polizei zu beschweren. Gott bewahre. Entführung und Misshandlung eines Buben mochte vielleicht eine Gesetzesübertretung sein, doch man wusch seine schmutzige Wäsche nicht draußen. Die beste Wäscherei gab es im Kibbuz. Auch als Gabi Ejal auf den Kopf gesprungen war, hatte sich niemand nach außen beschwert. Erst viele Jahre später würde Roni zufällig erfahren, wer die Entführung bewerkstelligt hatte.
    Ejal hatte einen gebrochenen Kiefer. Noch monatelang danach hatte er Schwierigkeiten, den Mund zu öffnen. Anfangs konnte er nichts essen, die unteren Zähne hatten sich schief und krumm gelegt und hatten die Backenzähne weggeschoben. Er unterzog sich jahrelangen mund- und kieferchirurgischen Behandlungen, und er gewann nie mehr die Fähigkeit zurück, zu pfeifen und zu gähnen. Sein schiefes Gesicht erinnerte Gabi, solange er im Kibbuz lebte, solange er noch auf den Betonpfaden oder im Speisesaal oder in der Basketballhalle auf ihn stieß, immer daran, was er getan hatte und was ihm im Gegenzug angetan worden war. An die erschütterten Blicke der Kibbuzgenossen, Dutzende Augenpaare, die ihn bei jeder Mahlzeit im Speisesaal anstarrten. An die Haltung seiner Freunde, an die, von denen er gedacht hatte, dass sie seine Freunde seien. Sogar Jotam und Ofir brauchten eine ganze Weile, bis sie wieder mit ihm redeten, obwohl sie es gewesen waren, die zu Gabi gesagt hatten, er solle es nicht schweigend hinnehmen, obwohl sie die Demütigung geschürt und die Flamme in ihm entzündet hatten, die ihn mit gestreckten Beinen von dem hohen Betonturm mitten in das Gesicht des kleinen, unverschämten Jungen springen ließ.
    Ihn kamen sie nicht im Krankenhaus besuchen. Ihm schickten sie keine Süßigkeiten, und sie saßen auch nicht an seinem Bett, um Unterrichtsstoff zu ergänzen, den er

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