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Auf fremdem Land - Roman

Auf fremdem Land - Roman

Titel: Auf fremdem Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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allein zum Berg jenseits der Umrandungsstraße hinter dem Kibbuzzaun, jenseits der Pflaumenplantagen. Viele Jahre vor seinen nächtlichen Klausuren auf fernen Hügeln, noch bevor er wusste, dass die Abgeschiedenheit eine höhere und größere Tugend als alle anderen ist. Damals hatte es andere Gründe. Sein Bruder Roni war zu guter Letzt in das Alter gekommen, in dem vier Jahre Altersunterschied nicht mehr überbrückbar sind. Die Jahre, in denen er der große Bruder gewesen war, der sein kleines Ebenbild beschützte, der ihn mit zu sich ins Bett nahm, der Stärke daraus bezog, dass er im Verhältnis zu ihm allmächtig war – im Reden, im Verständnis, in der Kraft seiner Muskeln, die es ihm ermöglichte, seinen Willen unwidersprochen durchzusetzen –, waren vorbei. Nun war Gabi immer noch Kind, während Roni, zumindest in seinen eigenen Augen, schon ein kleiner Mann war und ganz langsam immer mehr in seiner ersten echten, überwältigenden Liebe versank. Es war Jifat aus dem Nachbarkibbuz, aus seiner Klassenstufe in der Regionalschule. Er kannte sie seit der ersten Klasse, doch in der zehnten befreundeten sie sich plötzlich und wurden unzertrennlich. Jifats Zimmergenossin im Kibbuz verbrachte die meiste Zeit mit ihrem Soldatenfreund in Haifa, also gingen Roni und Jifat nach der Schule zu ihr ins Zimmer und nach dem Abendessen ins Pub, tranken Bier und spielten Darts mit Freiwilligen, fuhren zu Konzertauftritten der T-Slam im Kibbuz Ajelet Haschachar, der Komikergruppe Hagaschasch Hachiver in Kfar Blum, von Shlomo Artzi in Zemach, der Bootleg Beatles im Pub des Kibbuz und zu den Heimspielen des Oberen Galils mit Brad Leaf, dem mörderischen Scharfschützen (Roni hatte sich inzwischen aus dem aktiven Spiel zurückgezogen, zum Kummer Baruch Schanis und dem Rest seiner Fans im Kibbuz). Jifat kam zwei- oder dreimal in seinen Kibbuz, aber Roni stellte sie weder seinem kleinen Bruder noch Mutter Gila oder Vater Jossi vor.
    Dazu kam noch ein weiterer Grund für die häufigen Alleingänge zum Berg. Das Zimmer von Mutter Gila und Vater Jossi war kein Zuhause. Sie wohnten noch darin, teilten sich das Bett, gingen zusammen in den Speisesaal, doch Gabi wusste, dass sie fast nicht mehr miteinander redeten, und wenn sie miteinander redeten, schrien sie normalerweise, und wenn sie mit dem Anschreien fertig waren, brach Vater Jossi zu seinen Runden auf, die, laut Gilas Geschrei, Besuche in den Räumen der weiblichen Freiwilligen und anderer Arbeiterinnen von der Ziergärtnerei beinhalteten, und Mutter Gila blieb zu Hause, trank und rauchte.
    Aber auch wenn das Zimmer der Eltern voll der Harmonie und Liebe gewesen wäre, hätte Roni wohl den Großteil seiner Zeit im Nachbarkibbuz verbracht, und Gabi wäre zum Berg gewandert. Denn in den Altersstufen, in denen sich Gabi und Roni nun befanden, änderte sich die Bedeutung des Begriffs »Adoptiveltern«. Nach einer Kindheit, in der der Unterschied zwischen »echt« und »adoptiert« unwichtig gewesen war – Mutter ist Mutter und Vater ist Vater, sie sind einfach da –, kamen die Tage, in denen sich aus tiefster Seele der laute, klare Schrei erhob: Ihr seid nicht meine Eltern! In diesem Alter entfremden und distanzieren sich ja auch »echte« Kinder und sind völlig erstaunt angesichts der Möglichkeit, dass auch nur die entfernteste Beziehung zwischen ihnen und dem Erwachsenenpaar besteht, das sich anmaßt, Autorität über sie auszuüben. Für adoptierte Kinder kann es dann umso leichter sein, vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie sich entfernen – zum Zimmer im Nachbarkibbuz, zum Berg, wohin auch immer.
    Auch Gabi hatte eine Freundin, Noga, auch er kostete den Geschmack des ersten Kusses, hinter dem Traktor, beim fröhlichen Beisammensein im Frühling am Lag-Ba’omer-Fest, neben dem Packhaus. Nach einem Monat jedoch fragte ihn Jotam, ob es ihm was ausmache, wenn er ihr Freund würde. Gabi sagte, in Ordnung, und danach sprach er nicht mehr mit ihr, was etwas seltsam war, denn Jotam war sein Zimmergenosse, so dass er sie ab und zu sah. Einmal wartete sie, während Jotam duschte, auf seinem Bett, und Gabi las ein Buch auf seinem Bett, und im Radio brachten sie die Sendung »Heiße Schoko« mit Menachem Peri, der ein Lied von den Thompson Twins spielte. Gabi wusste, dass sie das Lied liebte, aber immer noch fiel kein Wort. Gabi verstand nicht, was an Mädchen so groß begeisternd sein sollte, wie Roni so versunken, fern und fremd sein konnte nur wegen eines Mädchens. Jotam war

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