Auf fremdem Land - Roman
nahm einen Schluck aus der Tasse, doch sie war leer, und er starrte hinein, als bräuchte er eine Bestätigung. »Nu …«, sagte er schließlich, »wenigstens hast du was erzählt.« Seit Roni angekommen war, hatten sie kaum miteinander geredet, obwohl Gabi einige Male versucht hatte, nachzufragen. Tatsächlich hatten sie die meiste Zeit ihres Lebens nur wenige lange, persönliche Gespräche geführt.
»Du weißt, was ich denke. Alles liegt in der Hand des Herrn. Wenn er dich hierhergeführt hat, dann musst du hier sein.«
Roni sah ihn mit einem verwunderten Blick an, doch er entgegnete nichts. Er ging zur Toilette, kam zurück und fand Gabi in der gleichen Haltung auf dem Stuhl vor. Er sagte: »Du arbeitest viel, mein Bruder, eh?«
»Dem Herrn sei Dank, gepriesen sei sein Name«, hob Gabi den Blick.
»Schön, schön, das ist gut, du schaffst es sicher, etwas auf die Seite zu legen, oder nicht? Das Leben hier ist nicht teuer, dieser Wohnwagen, was war die Miete gleich wieder, hast du gesagt, dreihundert Schekel?«
»Na gut, auch die Löhne sind nicht wie im Zentrum. Ich bemühe mich, mit Hilfe des Herrn.«
Das Schweigen, das darauf herrschte, verstand Gabi sofort. Manchmal wusste er einfach, was Roni in Wirklichkeit wollte. »Roni, ich kann dir nichts geben. Das heißt, ich gebe dir schon eine Menge, weißt du: das Essen, die Unkosten.«
»Ich weiß, klar. Und was ist mit dem Sparkonto von Onkel Jaron? Ist da nichts übrig?«
»Schon längst nicht mehr. Ich lebe von dem, was ich verdiene. Und wenn es mir gelingt, etwas auf die Seite zu legen, dann ist es für ein heiliges Ziel.«
»Ich hab nicht zu dir gesagt, dass du auf irgendein Ziel verzichten sollst, Gott bewahre. Welches Ziel?«
Gabi wollte zu Rosch Haschana nach Uman in die Ukraine fahren. Zur heiligen Grabstätte des chassidischen Meisters, Rabbi Nachman von Brazlaw. Ein Traum, den er schon einige Jahre lang hegte und den er dieses Jahr zu verwirklichen gedachte. Längs und quer werde ich mich niederwerfen, um ihm Gutes zu tun, an seinen Schläfenlocken werde ich ziehen und ihn herausholen aus der untersten Tiefe, hatte Rabbi Nachman jedem versprochen, der käme, um sein Grab zu besuchen, und Gabi bedurfte dessen mehr denn je. Den Kopf auslüften. Grünes mit den Augen sehen, Regen auf den Schultern spüren. Sich entfernen von hier und dem Rabbi so nahe wie nur irgend möglich kommen. Zum Grab pilgern, mit Tausenden an seinem Monument beten sowie in Kloisn, seiner Synagoge. Die Tänze und die Lieder und das Buch der Thora, die explodierende Freude, die er auf YouTube gesehen hatte. Sich in diesen Wäldern unter die gleichen Eichen zurückziehen wie Rabbi Nachman an seinem Lebensabend, wie sein Schüler Nathan von Brazlaw, in den Schatten des Ba’al Schem Tov, Nachmans Urgroßvater, in Miedzyboz und bei Rabbi Levi Isaac von Berditschev. Nachman hatte jedem ewige Wiederherstellung versprochen, der zu seinem Grabmal kommen, einen Wohltätigkeitsgroschen für seine Seele geben und dort sein Gebet, tikun haklali , zur generellen Heilung sprechen würde.
»Rosch Haschana ist wann, in vier, fünf Monaten? Kein Problem. Bis dahin werde ich einen ordentlichen Kredit von der Bank organisiert haben, und es werden schon Bestellungen einlaufen. Ganz sicher. Du wirst dieses Jahr nicht auf Uman verzichten, Bruderherz, und ich will dir noch was sagen – nächstes Jahr wirst du noch mal fahren, auf Kosten deines Bruders. Was sagst du zu dem Bonus? Was sich Zinseszins nennt?«
Gabi wusste nicht, was er sagen sollte.
Nach zehn Minuten sagte er immer noch nichts. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Mit Vernunft war hier nichts auszurichten. Die Waagschalen befanden sich nicht einmal annähernd im Gleichgewicht: in der einen sein Traum, sein teures Geld, das er im Schweiße seines Angesichts verdient hatte, mit der Bearbeitung der Erde und dem Aufbau des Landes; in der anderen das zweifelhafte, dilettantische Projekt, noch dazu mit Arabern, eines verantwortungslosen Menschen mit einer chronischen Neigung, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Der den Kontakt abgebrochen hatte. Der in der schwersten Phase im Leben seines Bruders keinen Ton hatte verlauten lassen. Und noch mehr – seine Lebensweise und sein Glauben auf der einen Seite und die absolute Verleugnung auf der anderen. Aber trotzdem, sein älterer Bruder war in Not, bat um Hilfe; vielleicht war das sein einziger Weg, aus der Verstrickung hinaus zum Licht zu finden? Sollte er ihm das
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