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Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Titel: Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Bedürfnis der Menschen, Orakel zu befragen oder die Botschaften der Götter zu enträtseln, als gegeben hin. Ob man dazu die Leber eines frisch geschlachteten Huhns oder die Flugbewegungen eines Vogelschwarms begutachtete, war gleichgültig: Die Zeichen dienten denjenigen, die sie zu deuten verstanden. Fehlte nur noch derjenige, der einem die Deutung abkaufte. Cumae oder Lourdes; Diana von Ephesus oder die Jungfrau von Fatima: Alle hatten eine sibyllinische Botschaft im Angebot.
    Die Frauen in Brunettis Familie hatten den Rosenkranz gebetet. Wenn er als Kind am Freitagnachmittag von der Schule nach Hause kam, knieten sie oft im Wohnzimmer auf dem Boden und murmelten ihre Beschwörungsformeln. Damals wie heute noch, zwei Generationen später, erschienen ihm solche Bräuche und der Glaube, der sie beseelte, als selbstverständlicher Bestandteil des menschlichen Lebens. Und ob jemand an den wohltätigen Einfluss der Madonna glaubte oder an die Fähigkeit eines Menschen, Kontakt mit den Seelen der Toten aufzunehmen, machte für ihn keinen großen Unterschied.
    Da er noch nie mit einem Fall zu tun gehabt hatte, bei dem es um falsch verstandenen Glauben ging – falls tatsächlich etwas dieser Art hinter dem seltsamen Verhalten von Vianellos Tante steckte –, kannte Brunetti sich mit den betreffenden Gesetzen nicht aus. Italien hatte eine Staatsreligion; folglich neigten die Gesetze zu einer gewissen Toleranz gegenüber der Kirche und deren Würdenträgern. Wucher, Komplizenschaft mit der Mafia, Missbrauch von Minderjährigen, Betrug und Erpressung: Solche Vorwürfe lösten sich ihnen gegenüber immer bald in Luft auf, als habe sie jemand mit dem Weihwasserwedel zerstreut.
    Auf jenen Webseiten allerdings wurde der Staatsreligion Konkurrenz gemacht, und so konnte es durchaus sein, dass die Gesetze die Aktivitäten dieser Leute etwas kritischer betrachteten. Was aber, wenn ihre Versprechungen gleich viel galten wie die der Kirche? Wo lag dann die Wahrheit? – Das Telefon riss Brunetti aus seinen Grübeleien.
    Er nahm ab, froh über die Unterbrechung.
    »Ich bin’s, Guido«, sagte Vianello. »Eben hat mir Loredano Bescheid gesagt. Der Bankdirektor hat angerufen: Meine Tante ist jetzt bei ihm. Sie hat dreitausend Euro abgehoben. Er hat sie zu sich nach oben in sein Büro gebeten, sie soll ein paar Papiere unterschreiben.«
    »Wer ist auf Streife?«
    »Pucetti und eine von den Neuen, sie sind schon zur Via Garibaldi unterwegs.«
    Brunetti ging im Kopf die Via Garibaldi auf der einen Seite hinunter, dann auf der anderen zurück. »Banco di Padova?«
    »Ja. Neben der Apotheke.«
    »Hat er gesagt, wie lange er sie bei sich behalten kann?«
    »Zehn Minuten. Er will sich nach der Familie erkundigen, das wird sie für eine Weile beschäftigen.«
    »Wo bist du jetzt?«, fragte Brunetti.
    »Auf Murano. Jemand hat versucht, einer Frau die Handtasche zu entreißen, er wurde von Zeugen verfolgt und in den Kanal geworfen. Wir mussten rüber und ihn rausfischen.«
    »Ich geh mir das mal ansehen«, sagte Brunetti und wollte schon einhängen, als er Vianello noch sagen hörte: »Sie trägt eine grüne Bluse.«
    In Gedanken bei dem Anruf, überfiel ihn die Hitze, als er aus der Questura ins Freie kam. Sie schlug wie eine Woge über ihm zusammen, sekundenlang glaubte er in dem feuchten Element keine Luft zu bekommen. Er blieb stehen, trat in den kläglichen Schatten der Türlaibung zurück und zückte seine Sonnenbrille. Die dämpfte das Licht, gegen die Temperatur aber war sie machtlos. Sein Jackett aus leichter blauer Baumwolle klebte an ihm wie ein isländischer Pullover.
    Hitze und Licht waren so unvermittelt über ihn hergefallen, dass Brunetti erst kurz nachdenken musste, ehe ihm wieder einfiel, warum er nach draußen gegangen war und wo entlang es zur Via Garibaldi ging.
    »Der helle Wahn«, murmelte er vor sich hin, während er die Brücke überquerte. Unwillkürlich senkte er den Blick vor dem gleißenden Licht und überließ es seinen Füßen, den Weg zu finden. Er schlängelte sich durch die Gassen, ohne bewusst darauf zu achten, wohin er ging. Seine Füße trugen ihn über eine zweite Brücke, dann nach rechts, und als er schließlich die breite Via Garibaldi erreicht hatte, wünschte er, er wäre in der Questura geblieben. Ihr Plattenbelag buk seit Stunden in der Sonne – der Hitze, die davon aufstieg, fühlte er sich ausgeliefert. Eingeklemmt zwischen der gnadenlosen Sonne und der Hitzestrahlung von unten, wusste Brunetti

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