Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)

Titel: Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
Leute nahmen die Anrufe entgegen, oder zwanzig, oder hundert; und angenommen, die Telefone waren rund um die Uhr besetzt. Zehn Minuten? Von wegen! Wann hatte man schon Gelegenheit, mit einem einfühlsamen Zuhörer zu sprechen, dem man seine gekränkte, verkannte Seele bis ins Kleinste offenbaren konnte? Im Übrigen hieß es in den Anzeigen, die Telefone seien mit »ausgebildeten Fachleuten« besetzt. Ausgebildet zum Zuhören waren die garantiert, aber Brunetti vermutete stark, der Zweck ihres Zuhörens könnte in etwas anderem bestehen als Beistand für die Geplagten und Beladenen. Wer konnte schon der Verlockung widerstehen, endlos von seinem faszinierenden Ich zu erzählen? Wer war immun gegen anteilnehmende Fragen oder den mitfühlend geäußerten Wunsch, den Anrufer noch genauer kennenlernen zu wollen?
    Brunetti galt in der Questura als geschickter Vernehmungsbeamter, dem es nicht selten gelang, selbst mit den abgebrühtesten Knastbrüdern ins Gespräch zu kommen. Die Wahrheit behielt er für sich: dass er nicht auf Gespräche aus war, sondern auf Monologe. Sitzen, einen interessierten Eindruck machen, gelegentlich eine Frage stellen, selbst nur so wenig wie möglich reden, Anteilnahme bekunden an dem, was gesagt wurde, und gegenüber demjenigen, der es sagte – und nur wenige Häftlinge oder Verdächtige konnten dem Drang widerstehen, die Stille mit ihren eigenen Worten auszufüllen. Auch einige seiner Kollegen beherrschten diese Taktik, allen voran Vianello.
    Je einfühlsamer man sich bei einer Vernehmung gab, desto eher heischte der Verdächtige um Verständnis und begann seine Motive auseinanderzusetzen, wobei er wie von allein jede Menge Erklärungen mitlieferte. Bei den meisten Verhören ging es Brunetti hauptsächlich darum, herauszufinden, was der andere getan hatte, und ihm ein Geständnis zu entlocken, während sein Gegenüber Brunettis Verständnis und Mitgefühl zu gewinnen suchte.
    Genau wie die Leute im Gespräch mit Brunetti selten die juristischen Konsequenzen bedachten, so verschwendeten diejenigen, die mit den ausgebildeten Fachleuten in den Callcentern redeten, vermutlich keinen Gedanken an die ökonomischen Konsequenzen ihrer Geschwätzigkeit.
    »Hier sind die tramezzini, Signore«, hörte er Riverre sagen. Brunetti drehte sich um, kam aber nicht dazu, ihm zu danken, weil Riverre mit einem Blick auf den Bildschirm bemerkte: »Ach, Sie holen sich auch Rat, Commissario?«
    Brunetti war um eine Antwort verlegen. Er nahm die Papiertüte mit den Sandwichs und den zwei Halbliterflaschen Mineralwasser und stellte sie neben den Computer. Erst dann meinte er beiläufig: »Was heißt schon Rat holen? Ab und zu sehe ich mal nach, ob es was Neues gibt.« Im selben Augenblick beschloss er, seine Mahlzeit im Bereitschaftsraum einzunehmen, und nahm ein Sandwich aus der Tüte. Tomate und Schinken. Er wickelte es aus der Serviette und biss hinein.
    Kauend wies er mit dem tramezzino auf den Bildschirm und fragte: »Haben Sie einen bestimmten Favoriten, Riverre?«
    Riverre zog seine Jacke aus, trat zur Seite, um sie über den Stuhl an seinem Schreibtisch zu hängen, und kam zu Brunetti zurück. »Na ja, Favorit ist vielleicht zu viel gesagt, Signore, aber es gibt da eine Frau – in Turin, glaube ich –, die spricht über Kinder und was für Probleme die haben können. Oder die ihre Eltern mit ihnen haben können.«
    »Bei der heutigen Jugend«, sagte Brunetti nur, »ist das sicher eine gute Sache.«
    »Finde ich auch, Signore. Meine Frau hat sie ein paarmal angerufen und gefragt, was wir mit Gianpaolo machen sollen.«
    »Der müsste jetzt zwölf sein, oder?«, riet Brunetti ins Blaue hinein.
    »Vierzehn, Signore. Gerade geworden. Und er ist kein kleiner Junge mehr, also können wir ihn auch nicht mehr so behandeln.«
    »Das hat sie Ihnen gesagt, diese Frau aus Turin?«, fragte Brunetti, der jetzt mit dem ersten tramezzino fertig war und eine Wasserflasche aus der Tüte nahm. Mit Kohlensäure. Gut. Er schraubte sie auf und bot sie Riverre an, aber der schüttelte den Kopf. »Nein, Signore. Das hat meine Mutter gesagt.«
    »Und die Frau in Turin? Was sagt die?«
    »Hat uns einen Kurs angeboten. Zehn Stunden, die meine Frau und ich zusammen bei ihr nehmen können.«
    »In Turin?«, fragte Brunetti, ohne seine Verblüffung verbergen zu können.
    »O nein, Signore.« Riverre lachte leise. »Wir gehen mit der Zeit, meine Frau und ich. Wir sind online und brauchen uns nur anzumelden, dann bekommen wir den Kurs auf

Weitere Kostenlose Bücher