Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
das System, mit dem das Justizministerium die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren versuchte. Sie betrachtete Fontanas Unterschrift und sagte: »Ehrlich gesagt, allmählich kommt es mir ziemlich seltsam vor, wie Fontana sich der Richterin gegenüber verhalten hat.«
»Unerwiderte Liebe wirkt immer seltsam auf Leute, denen dieses Gefühl fremd ist«, dozierte Brunetti und fand, dass er sich salbungsvoller anhörte als Polonius.
»Das ist es ja gerade«, sagte Signorina Elettra und sah ihn an. »Ich bin mir nicht sicher, dass es wirklich unerwiderte Liebe ist.«
»Was denn sonst?«
»Keine Ahnung.« Sie verschränkte die Arme und tippte mit dem Papierbündel an ihre Unterlippe. »Ich weiß, was unerwiderte Liebe ist«, sagte sie, ohne zu erklären, woher sie das wusste. »Zuerst habe ich es dafür gehalten, aber je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher kommt es mir vor. Er ist zu unterwürfig, zu kriecherisch, wenn er mit ihr spricht: Selbst einem so langweiligen Mann wie ihm müsste klar sein, dass das niemandem angenehm ist.«
»Manchen schon«, sagte Brunetti.
»Ich weiß, ich weiß. Aber nicht ihr. Das steht fest. Eins habe ich noch nicht erwähnt – sehr peinlich, so etwas zu erzählen, aber er hat ihr ständig alles Mögliche angeboten: einen Kaffee, ein Glas Wasser, ein Stück Kuchen. Als sei er ihr zu Dank verpflichtet, aber auf merkwürdige Weise.«
»Wenn die beiden gemeinsame Sache machen, bekommt sie wahrscheinlich den größeren Teil der Bezahlung«, sagte Brunetti und ging wie selbstverständlich davon aus, dass Signorina Elettra seine Interpretation der ihm zugespielten Listen teilte. »Also sollte eigentlich sie den Kaffee bezahlen.«
»Nein, nein«, sagte Signorina Elettra und wischte damit seine Interpretation ebenso beiseite wie seinen Versuch, eine humorvolle Bemerkung zu machen. »Er denkt bestimmt nicht, dass er ihr etwas zurückzahlen könnte. Eher sieht es so aus, als gebe es eine riesige Kluft zwischen ihnen, und er versucht verzweifelt, die irgendwie zu überbrücken, obwohl er genau weiß, dass das unmöglich ist.« Sie dachte kurz nach. »Nein, das ist es auch nicht. Er ist ihr dankbar – so über alle Maßen, als habe die Madonna seine Gebete erhört. Es tut weh, so etwas zu beobachten.«
»Hat Ihr Freund Umberto das mitbekommen?«
»Falls ja, hat er sich nichts anmerken lassen. Und ich wollte nur noch weg und habe ihn nicht gefragt. Außerdem graute mir bei der Vorstellung, an der riva auch nur eine Minute länger in der Sonne zu stehen. Ich wollte nur noch in die Gondel und übersetzen.«
Brunetti konnte sich die Frage nicht verkneifen: »Behandelt Umberto Sie so – wie die Madonna?«
»O nein«, sagte sie, ohne zu zögern. »Für ihn ist es unerwiderte Liebe.«
Weder an diesem Tag noch am nächsten gelang es Signorina Elettra, Näheres über den Grund für die Terminverschiebungen bei den in der Liste aufgeführten Gerichtsverfahren zu ermitteln. Das Computersystem des Tribunale war außer Betrieb, und da die zwei dafür verantwortlichen Leute im Urlaub waren, würde es mindestens eine Woche dauern, bis die Datenbank wieder zugänglich war. Bedauerlicherweise galt dies, wie sie feststellte, gleichermaßen für autorisierte wie unautorisierte Versuche, an irgendwelche Informationen heranzukommen.
Brunetti, der vor seiner Abreise gern noch einen Schritt weitergekommen wäre, rief sie an und fragte, ob sie etwas über Fontanas Vermieter, Marco Puntera, herausgefunden habe. Das sei ihr noch nicht gelungen, entschuldigte sie sich geradezu, da ihr Freund nicht mehr bei der Bank arbeite und sie mit dem Aufsetzen von Vice-Questore Pattas Anweisungen für die Urlaubszeit so beschäftigt gewesen sei, dass sie die Kontobewegungen nicht selbst habe nachverfolgen können. Sie versprach, das nachzuholen, sobald der Vice-Questore wohlbehalten auf Ponza eingetroffen sei, wo er und seine Familie als Gäste des obersten Stadtrats von Venedig, der dort ein Sommerhaus hatte, ihren Urlaub verbringen würden.
»Auch eine Methode, für absolute Objektivität der Ordnungskräfte bei Ermittlungen gegen Lokalpolitiker zu sorgen«, sagte Brunetti, als er den Namen von Pattas Gastgeber hörte.
»Ich bin mir sicher, der Vice-Questore ist immun gegen Schmeicheleien jeglicher Art«, entgegnete Signorina Elettra. »Sie wissen selbst, wie oft er betont, dass wir jeden Anschein von Vetternwirtschaft zu vermeiden haben.«
»Das weiß ich in der Tat«, sagte Brunetti und wandte sich
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