Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Foscari unterrichtet? Im Fachbereich Englische Literatur?«, ereiferte sie sich.
Ruhiger fügte sie hinzu: »Ich habe mir die Bücher angesehen, die du mitnehmen willst.«
Das hatte Brunetti gehofft: Sein Maßhalten sollte ein Vorbild angesichts ihres Übermuts sein.
»Ertappe ich dich bei einer ungewohnten Hinwendung zum Modernen?«, fragte sie.
»Ich habe beschlossen, mich ein wenig mit neuerer Geschichte zu beschäftigen«, erklärte er stolz.
»Aber warum die Russen?«, fragte sie und zeigte auf ein Buch, das Die Tragödie eines Volkes hieß.
»Das interessiert mich, die Revolution«, sagte er.
»Mich interessiert, wie so viele von uns darauf reinfallen konnten«, sagte sie, und plötzlich klang ihre Stimme ziemlich schroff.
»Du meinst, wir im Westen?«
»Wir. Im Westen. Unsere Generation. Das Arbeiterparadies. Brüder, im Sozialismus vereint. Der ganze Unsinn, den wir gepredigt haben, um unseren Eltern zu zeigen, dass wir mit ihrem Leben nicht einverstanden waren.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, und ihre Geste hatte nichts Übertriebenes. »Allein schon der Gedanke, dass ich damals die Kommunisten gewählt habe – und das aus freien Stücken.«
Als Trost fiel Brunetti nur ein: »Die Geschichte hat sie hinweggefegt.«
»Aber zu spät«, sagte sie wütend. »Du kennst mich gut genug, du weißt, ich habe es nicht so mit Scham oder Schuldgefühlen, aber ich werde ewig ein schlechtes Gewissen haben, weil ich diese Leute gewählt habe, weil ich alle vernünftigen Argumente in den Wind geschlagen und einfach nicht geglaubt habe, was ich nicht glauben wollte.«
»Immerhin waren sie hier nie wirklich an der Macht«, sagte Brunetti. »Das weißt du doch.«
»Es geht mir nicht um sie, Guido; es geht mir um mich. Dass ich so dumm sein konnte und so lange so dumm geblieben bin.« Sie nahm sein Buch und blätterte darin herum, sah sich einige der Fotos an, klappte es wieder zu und legte es hin. »Mein Vater hat sie immer gehasst. Aber ich wollte nicht auf ihn hören. Was konnte der schon wissen?«
»Meinst du, wir müssen uns auch auf so etwas gefasst machen?«, versuchte er das Thema zu wechseln. »Von unseren Kindern?«
Sie zog eine Schublade auf und nahm einen Pullover heraus, bei dessen bloßem Anblick Brunetti der Schweiß ausbrach. »Raffi ist ziemlich schnell zur Vernunft gekommen«, sagte sie. »Dafür sollten wir schon mal dankbar sein. Aber früher oder später schleppen sie uns garantiert was anderes ins Haus.«
Brunetti stellte sich an das Fenster, das nach Norden ging, und spürte eine leise Brise. »Meinst du, das Wetter wird besser?«, fragte er.
»Noch wärmer, vermutlich«, sagte sie und nahm einen weiteren Pullover heraus.
Am nächsten Tag war Signorina Elettra mit ihrem Bewunderer beim Tribunale zum Kaffee verabredet. Brunetti ging davon aus, dass sie frühmorgens zum Blumenmarkt wollte, bevor die Hitze die Stadt in ihren Würgegriff nahm. Danach in aller Ruhe ein Kaffee samt anregendem Plausch über gemeinsame Bekannte und andere Angestellte vom Tribunale – vor elf würde sie kaum in der Questura sein, schätzte er. Jedoch kam er nicht dazu, selbst nachzusehen, ob sie inzwischen eingetroffen war, da er durch ein langes Telefonat mit einem Freund von der Questura in Palermo aufgehalten wurde, der wissen wollte, ob ihm etwas über die zwei neuen Pizzerien und ein kürzlich in Venedig eröffnetes Hotel zu Ohren gekommen sei.
Brunetti hatte einiges darüber gehört, auch über die vorgeblichen und die wirklichen Inhaber. Was sein Freund ihm zu berichten hatte, betraf die wirklichen Betreiber. Besonders interessant waren für Brunetti die Erläuterungen seines Freundes zu der ungewohnten Schnelligkeit, mit der umfangreiche Sanierungsarbeiten in den beiden Pizzerien und dem Hotel genehmigt worden waren.
Kaum zu glauben, aber die Genehmigungen für das H0tel waren binnen zwei Wochen erteilt worden. Ebenso schnell wurde genehmigt, dass die Bauarbeiter rund um die Uhr arbeiten durften – geradezu unerhört in dieser Stadt. Die Umbaumaßnahmen für die Pizzerien waren ohnedies nicht so aufwendig – es verging keine Woche, und schon waren sie genehmigt.
Als sein Freund in Palermo ein besonderes Interesse am Leiter des für die Genehmigungen zuständigen Amtes durchblicken ließ, konnte Brunetti nur stöhnen, so vertraut war ihm der Name und für so nutzlos hielt er jeglichen Versuch, die Verfahrensweisen der Baubehörde zu durchleuchten.
Brunetti versuchte das Ganze mit einem Lachen
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