Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
fragte sie.
»Natürlich wäre mir ein Wagen lieber«, versicherte er. »Aber ich kann hier vom Zug aus ab und zu die Autobahn sehen, und da geht streckenweise gar nichts mehr. Mit dem Zug wäre ich schneller.«
Sie murmelte etwas, dann hörte er, wie sie den Hörer hinlegte. Die Verbindungsstörungen, bemerkte er jetzt, schienen immer dann aufzutreten, wenn der Zug sich einer Hochspannungsleitung näherte. Aber dann sagte Griffoni klar und deutlich: »Der EuroCity von München nach Venedig fährt eine Minute nach dem Eintreffen Ihres Zugs in Bozen ab.«
»Gut«, sagte Brunetti. »Rufen Sie den Bahnhof in Bozen an und sagen Sie, der Zug soll auf mich warten. Wir treffen in zwölf Minuten dort ein, und wenn ich den Zug noch erwische, bin ich in etwa vier Stunden in Venedig.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Ich rufe Sie gleich zurück.«
Brunetti legte auf, lehnte sich an die Glastür des Abteils, in dem seine Familie saß, und betrachtete die Berge, die über den endlosen Apfelplantagen in den Himmel ragten.
Etliche Kilometer weiter läutete sein Telefon. »Der EuroCity hat zehn Minuten Verspätung«, sagte Griffoni. »Wenn also Ihr Zug pünktlich ist, schaffen Sie das locker. Sie müssen nach Gleis vier.«
»Ich muss meine Familie zu ihrem Zug bringen, also rufen Sie im Bahnhof an und sagen Sie denen, Sie sollen mit der Abfahrt auf mich warten.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Ich lasse Sie dann hier am Bahnhof abholen.«
Brunetti steckte sein Telefon ein und zog die Abteiltür auf.
15
Später im Zug zurück nach Venedig sinnierte Brunetti über die Natur des Menschen, die tatsächlich immer noch Überraschungen für ihn bereithielt: Die jungen Leute hatten darauf bestanden, ihnen zu helfen, ihr Gepäck zum Anschlusszug zu tragen, ein Schaffner hatte sie empfangen und Brunetti mitgeteilt, der Zug nach Venedig habe weitere zehn Minuten Verspätung. Als seine Familie eingestiegen war, verschwanden die beiden jungen Leute, ohne sich nach dem rätselhaften Grund für seine plötzliche Rückkehr nach Venedig zu erkundigen. Brunetti küsste Paola und die Kinder, versprach, so bald wie möglich nachzukommen, und winkte dem abfahrenden Zug Richtung Meran hinterher – in die Berge, wo sie mitten im August in herrlichen Federbetten ausschlafen konnten.
In seinem Zug waren die Verhältnisse ähnlich, jedoch nur zeitweise, denn die eigensinnige Klimaanlage pustete mal Tropenluft, mal eisigen Polarwind in die Abteile. Die Fenster in den neuen Zügen ließen sich nicht öffnen, so dass er und die drei anderen in dem Erster-Klasse-Abteil, in das der Schaffner ihn geführt hatte, in einer Transportkiste eingeschlossen waren, die abwechselnd in Kalkutta und Ulan Bator zu halten schien. Brunetti hatte seinen Koffer, und damit auch seine Pullover, mit seiner Familie nach Norden geschickt und musste daher jedes Mal, wenn der Zug sich Ulan Bator näherte, auf den Gang hinaus fliehen, wo immerhin konstante Temperaturen herrschten, wenn auch reichlich hohe.
Fürs Erste konnte er daher weder in Frieden lesen noch ruhig darüber nachdenken, was ihn in Venedig erwartete und wie er dort vorgehen würde. Schließlich ging er in den Speisewagen, wo die Klimaanlage einwandfrei funktionierte, machte es sich mit der Zeitung bequem und trank zwei Tassen Kaffee und eine Flasche Mineralwasser.
Als der Zug in Mestre hielt, rief er Griffoni an und erfuhr zu seiner Erleichterung, dass ihn eine Barkasse am Bahnhof abholen werde.
»Vianello?«, fragte er. Er wusste, sein Freund war in Urlaub, hoffte aber, Griffoni habe ihn ebenfalls unterrichtet.
»Ich habe ihn angerufen, nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte. Er kennt jemanden bei der Guardia Costiera, und die haben die Genehmigung eingeholt, in kroatische Gewässer einzudringen, um ihn dort abzuholen.«
»Wen kennt er dort?«, fragte Brunetti.
»Er sagte nur, es sei jemand, mit dem er zur Schule gegangen ist«, erklärte sie.
»Gut. Danke.«
Der Zug fuhr an, und Brunetti legte auf. Auf dem Eisenbahndamm wurde er von riesigen Algenteppichen abgelenkt, die auf beiden Seiten im Wasser trieben. Der höhere Wasserstand am frühen Morgen hatte sie überdeckt, jetzt aber waren sie deutlich zu sehen. Minutenlang fuhren sie daran vorbei, es nahm und nahm kein Ende. Plastikflaschen schwammen in dem grünen Schlick, der erbarmungslos in alle Richtungen wucherte und wohl auch unter ihnen. Boote hielten sich davon fern. Wasservögel machten einen weiten Bogen. Der Algenteppich wuchs wie ein
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