Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Brunetti das Absperrband, das den Hof durchschnitt; der junge Mann stand dahinter. Er und Griffoni tauchten unter dem Band durch. »Wo hat er gelegen?«, fragte Brunetti.
»Da drüben, Commissario«, sagte der junge Polizist und zeigte nach hinten auf die Treppe, die zur Haustür hinaufführte.
Brunetti und Griffoni gingen dorthin; Brunettis Aufmerksamkeit richtete sich auf einen Blutfleck, der ein Quadrat etwa von der Größe eines Kopfes umschloss. Darunter war mit Kreide der Umriss eines Mannes gezeichnet, die Füße zeigten in ihre Richtung. Aus Brunettis Blickwinkel wirkte die Gestalt in der Tat klein.
»Wo ist die Skulptur?«, fragte er.
»Bocchese hat sie ins Labor bringen lassen«, sagte Griffoni. »Bloß eine Marmorkopie eines byzantinischen Löwen. Neunzehntes Jahrhundert.« Die Bemerkung verwirrte Brunetti, aber er fragte lieber nicht nach.
Er sah nach dem portone zurück, der auf die calle führte; der Blutfleck war etwa fünfzehn Meter davon entfernt, also hatte der Täter vermutlich im Hof gewartet. Oder Fontana war hineinbugsiert worden. Oder er war mit jemandem hineingegangen, den er kannte.
»Wissen wir etwas über die Tatzeit?«, fragte Brunetti.
»Nichts Genaues«, sagte Griffoni. »Wir haben die Leute im Haus noch nicht vernommen, aber ein Mann hat Scarpa erzählt, er und seine Frau seien kurz nach Mitternacht nach Hause gekommen und hätten nichts gesehen.« Sie wies auf den portone und zog mit der Hand eine Linie von dort bis zu dem Blutfleck. »Wenn er zu der Zeit schon dort lag, hätten sie ihn sehen müssen. Also muss es einige Zeit nach Mitternacht passiert sein.«
»Und vor halb acht«, sagte Brunetti. »Sehr vage.«
Griffoni nickte. »Das ist einer der Gründe, warum ich Rizzardi für die Autopsie angefordert habe.«
»Was hatte Scarpa zu berichten?«, fragte Brunetti.
»Er sagte, die Frau des erwähnten Zeugen habe ihm erzählt, Fontana lebe mit seiner Mutter zusammen. Die ist sehr fromm, geht jeden Tag in die Messe und einmal die Woche auf den Friedhof, um das Grab ihres Mannes zu pflegen. Ihr Sohn habe sie sehr geliebt, und es sei doch sehr tragisch, dass er in der Blüte seines Lebens habe abtreten müssen. Das Übliche: Kaum ist einer tot, kriegen die Leute sich gar nicht mehr ein, was für ein feiner Kerl er gewesen sei, was die Welt an ihm verloren habe, und überhaupt seine ganze Familie, alles wunderbare Menschen.«
»Und was schließen Sie daraus?«
Griffoni lächelte. »Jeder, der darüber nachdenkt, was die Leute wirklich meinen, wenn sie von der Güte anderer Leute schwärmen, würde daraus schließen, dass sie ein Drachen ist und ihrem Sohn das Leben zur Hölle gemacht hat.« Sie standen etwas von dem Neuen entfernt und sprachen nur leise miteinander; Brunetti bedauerte das, denn so würde der junge Polizist eine der Grundregeln seines Berufs erst zu einem späteren Zeitpunkt erfahren: dass man nichts glauben darf, was über einen Toten gesagt wird.
Brunetti sah sich den Tatort noch einmal an, das Absperrband, die Kreidemarkierung. Dann rief er dem jungen Beamten zu: »Sind Sie mit Tenente Scarpa gekommen?«
»Nein, Signore. Ich war auf Streife drüben bei San Leonardo und wurde telefonisch hierherbestellt.«
»Wer war hier, als Sie eingetroffen sind?«
»Tenente Scarpa. Außerdem die Kollegen Alvise und Portoghese. Und drei Leute von der Spurensicherung. Und der Fotograf.« Seine Stimme erstarb, aber es war klar, dass er noch nicht fertig war.
»Wer noch?«, fragte Brunetti in aufmunterndem Ton.
»Vier Bewohner dieses Hauses, oder jedenfalls benahmen sie sich so. Einer von ihnen hatte einen Hund dabei. Und dann standen noch ein paar Leute am portone. «
»Haben Sie die Namen notiert?«
»Ich habe daran gedacht, Signore. Aber da ein Vorgesetzter und zwei weitere Beamte vor Ort waren, habe ich angenommen, die hätten das bereits getan. Und ich hielt es nicht für meine Aufgabe, sie danach zu fragen.«
Brunetti sah sich den jungen Mann genauer an. Auf seinem Namensschild stand »Zucchero«. Er fragte: »Sind Sie der Sohn von Pierluigi?«
»Ja, Signore«, antwortete er.
»Ich habe Ihren Vater nie kennengelernt«, sagte Brunetti, »aber alle hier sprechen mit Hochachtung von ihm.«
»Danke, Signore. Er war ein guter Mensch.«
»Wo ist Ispettore Vianello?«, fragte Brunetti.
»Spricht oben mit der Mutter, Commissario. Er ist vor einer halben Stunde hier eingetroffen.«
Brunetti trat beiseite und drehte sich einmal langsam im Kreis, um den Hof in
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