Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
eine weiße Fläche, und sagte: »Nein, nicht dass ich wüsste.« Ihre Lippen setzten zu etwas an, das vielleicht ein Lächeln werden sollte, sich aber auch auf das Bild beziehen konnte.
»Verstehe«, sagte Brunetti. Er war zu dem Schluss gekommen, dass die Unterhaltung mit ihr ihn nicht weiterbringen würde. »Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.«
Sie erhob sich auf einen Satz, während sowohl er als auch ein sichtlich überraschter Vianello sich nur mit Hilfe der Armlehnen mühsam aus dem Sofa stemmen konnten.
Die Höflichkeiten beim Abschied blieben auf ein Minimum beschränkt; als sie die Treppe hinuntergingen, hörten sie die Tür hinter sich zufallen. Kaum war das geschehen, ahmte Vianello ihre Entrüstung nach: »Du liebe Zeit, nein. Mein Mann ist Bankdirektor.«
»Ein Bankdirektor mit einem guten Gespür für Inneneinrichtung«, fügte Brunetti hinzu.
»Wie bitte?«, fragte Vianello verblüfft.
»Wer eine solche Bluse anzieht, kann unmöglich diese Vorhänge ausgewählt haben«, erklärte Brunetti und steigerte Vianellos Verwirrung nur noch mehr.
Im ersten Stock klingelten sie bei Marsano. Nach langem Warten fragte von drinnen eine Frau, wer da sei.
»Polizia«, antwortete Brunetti. Er glaubte, Schritte zu hören, die sich von der Tür entfernten, und dann fragte eine Kinderstimme: »Wer ist da?« Hinter der Tür begann ein Hund zu bellen.
»Hier ist die Polizei«, sagte Brunetti und versuchte, möglichst freundlich zu klingen. »Das habe ich deiner Mutter doch schon gesagt.«
»Das war nicht meine Mutter: Das war Zinka.«
»Und wie heißt du?«
»Lucia«, sagte sie.
»Lucia, meinst du, du könntest uns die Tür aufmachen?«
»Meine Mutter sagt, ich soll keinen in die Wohnung lassen«, sagte das Mädchen.
»Nun, das ist wirklich sehr gut, dass sie das sagt«, räumte Brunetti ein. »Aber bei der Polizei ist das etwas anderes. Hat deine Mutter dir das nicht gesagt?«
Das Mädchen überlegte. Schließlich überraschte es ihn mit der Frage: »Ist das wegen der Sache, die mit Signor Araldo passiert ist?«
»Ja, richtig.«
»Nicht wegen Zinka?« Die Besorgnis in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Nein, ich weiß ja nicht einmal, wer Zinka ist«, erklärte Brunetti wahrheitsgemäß.
Endlich ließ sich das Geräusch eines Schlüssels vernehmen, dann ging die Tür auf. Vor ihm stand ein Mädchen von etwa acht oder neun Jahren. Sie trug Jeans und einen weißen Baumwollpulli und war barfuß. Während sie die Tür einen Spaltbreit öffnete, sah sie die beiden Polizisten neugierig an. Sie war hübsch, wie kleine Mädchen es meistens sind.
»Sie haben keine Uniform«, stellte sie fest.
Die beiden lachten, was das Mädchen von ihrer Gutmütigkeit, wenn auch nicht von ihrem Beruf überzeugen mochte.
Brunetti nahm eine Bewegung am Ende des Flurs wahr, als eine Frau in blauer Schürze aus einem der Zimmer kam. Sie hatte die stämmige Gestalt einer Osteuropäerin, ein entsprechend rundes Gesicht und flaumige helle Haare. Ihm war die Situation sofort klar: Sie war eine Illegale und arbeitete hier als Hausmädchen oder Babysitter, aber nicht einmal die Angst vor der Polizei konnte sie davon abhalten, nach dem Kind zu schauen.
Brunetti nahm seine Brieftasche und zog den Dienstausweis heraus. Er hielt ihn der Frau hin und sagte: »Signora Zinka. Ich bin Commissario Brunetti und möchte Ihnen ein paar Fragen zu Signor Fontana und seiner Mutter stellen.« Er beobachtete sie, um festzustellen, ob sie ihn verstand. Sie nickte, rührte sich aber nicht. »Alles andere interessiert mich nicht, Signora. Verstehen Sie?« Ihre Haltung schien sich etwas zu entspannen, also trat er, immer noch vor der Tür, ein Stück zurück und wies auf Vianello, der neben ihm stand und ebenfalls darauf achtete, seinen Fuß nicht über die Schwelle zu setzen. »Das gilt auch für meinen Mitarbeiter, Ispettore Vianello.«
Schweigend kam sie ihnen ein paar zaghafte Schritte entgegen. Das Kind drehte sich zu ihr um und sagte: »Komm, Zinka. Du kannst mit ihnen reden. Die tun uns nichts: Das sind Polizisten.«
Das Wort ließ die Frau erstarren, und ihr war anzusehen: Sie hatte mit der Polizei keine guten Erfahrungen gemacht.
»Wenn Sie uns nicht hereinlassen möchten, Signora«, nahm Brunetti einen neuen Anlauf, »können wir am Nachmittag noch einmal wiederkommen, oder wann immer Lucias Mutter zu Hause ist, falls Sie uns das sagen können.« Sie tat einen weiteren Schritt auf das Kind zu, wobei unklar blieb, ob sie es
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