Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
leise an, und je näher sie der Labortür kamen, desto lauter übertönte das undefinierbare Rauschen ihre Schritte. Brunetti schob sich langsam an das Bullauge heran, denn ihm war klar, jede plötzliche Bewegung konnte von drinnen bemerkt werden. Ein Schritt, noch einer, und dann endlich hatte er freie Sicht ins Labor.
Er sah das übliche Durcheinander: Reagenzgläser in Holzgestellen; dunkle Apothekenflaschen an einer Wand aufgereiht; Waagen, Papier und Computer auf jeder Arbeitsplatte. Ein Tisch in der Mitte des Raums war leer. Auf dem Boden rundherum wie die Trümmer eines gesunkenen Schiffs ein Computermonitor, Glasscherben und Papierfetzen in kleinen roten Pfützen.
Dann erkannte er die Quelle des Rauschens. Eine Frau in einem weißen Laborkittel stand mit dem Rücken zu ihm über ein Spülbecken gebeugt. Das Geräusch kam von dem Sturzbach dampfenden Wassers, das sie offenbar über etwas in ihren Händen laufen ließ. Er dachte an seine Kinder, die Wasserpolizei, und wie sehr sie diese Verschwendung von heißem Wasser und der zu seiner Erzeugung benötigten Energie missbilligen würden.
Er trat leise beiseite und gab Vianello den Platz frei. Obwohl das Rauschen ihm erlaubt hätte, mit normaler Stimme zu sprechen, flüsterte Vianello: »Warum wäscht sie sich die Hände?«
Wie die edlen Römer, schoss es Brunetti durch den Kopf, während er sich neben Vianello heranschob und die Tür aufstieß. Im Vorbeilaufen schnappte er sich von einem der Tische einen Telefonhörer und riss das Kabel davon ab. Gerade als er bei der Frau ankam, sank sie nach vorn über die Spüle, und er sah die roten – oder eher rosa – Schlieren im Abfluss verschwinden.
Er packte sie, zog sie zurück und legte sie auf den Boden; dann nahm er die Telefonschnur und schlang sie ihr als Aderpresse um den rechten Arm. Vianello kniete neben ihm mit einem zweiten Kabel und band ihr den linken Arm ab.
Das Gesicht der Frau am Boden war bleich, ihre Haare schulterlang und eher weiß als braun. Sie war nicht geschminkt, aber das hätte bei ihren groben Zügen und der unebenen Haut ohnehin nicht viel geholfen.
»Hol Hilfe«, sagte Brunetti, und Vianello rannte los. Er untersuchte ihre Handgelenke: Die Schnitte waren tief, aber eher schräg als senkrecht, was Anlass zur Hoffnung gab. Die Aderpressen taten ihre Wirkung, nur wenig Blut war auf den Boden getropft.
Sie blinzelte. Spärliche Wimpern und Brauen, die Augen von einem staubigen Braun. »Ich wollte das nicht«, sagte sie. Das immer noch rauschende Wasser machte es schwierig, sie zu verstehen.
Brunetti nickte trotzdem. »Wir alle tun manchmal Dinge, die wir später bereuen, Signorina.«
»Aber er hat mich gebeten«, sagte sie. Ihre Augen fielen zu, und Brunetti fürchtete schon, sie sei gestorben. Aber dann schlug sie die Augen wieder auf und sagte: »Und ich hatte Angst, er… er würde mich verlassen, wenn ich das nicht tue.«
»Machen Sie sich deswegen jetzt keine Sorgen, Signorina. Bleiben Sie ruhig liegen. Bald kommt jemand.« Sie befanden sich mitten in einem Krankenhaus: Warum dauerte das so lange?
Er hörte Schritte, blickte auf und sah Rizzardi. Der Arzt kam heran, kniete sich ihm gegenüber neben die Frau und stöhnte hörbar auf. »Elvira«, sagte er, »was tust du nur?« Brunetti registrierte, dass er sie duzte. Er sprach wie ein enttäuschter Vater, dessen Kind etwas angestellt hat.
»Dottore«, sagte sie und machte die Augen auf. Sie lächelte. »Ich wollte keine Schwierigkeiten machen.«
Rizzardi beugte sich über sie und fasste eine ihrer Hände. »Du hast niemals irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, Elvira. Ganz im Gegenteil. Dass ich überhaupt noch an dieses Labor glaube, liegt einzig und allein an dir.«
Sie schloss die Augen wieder, und Tränen rannen ihr über die Schläfen. Rizzardi sagte bewegt: »Nicht weinen, Elvira. Dir geschieht nichts. Alles wird gut.«
»Er wird mich verlassen«, sagte sie, ohne die Augen aufzumachen. Die Tränen liefen ihr in die Ohren.
»Nein. Wenn er erfährt, was du getan hast, wird er dir helfen wollen«, sagte Rizzardi und sah Brunetti fragend an, als wolle er wissen, ob er den richtigen Text aufgesagt hatte.
»Er kann die Laborergebnisse jetzt nicht mehr verwenden«, sagte sie. »Die Leute werden nicht glauben, dass er ihnen helfen will.« Sie schloss kurz die Augen und sah dann zu Rizzardi auf. »Aber das tut er, Dottore. Er hilft ihnen wirklich.« Sie lächelte, und etwas wie Schönheit leuchtete in ihren Zügen auf.
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