Auf Umwegen ins Herz
auch nicht mehr zurückhalten.
„Und wie kam es dann dazu, dass du dich … wieder in den netten Julian verwandelt hast?“ Das war eine Frage, die mich seit unserem ersten Treffen brennend interessierte, als er mir vom Schulwechsel erzählte. Julian drehte sich mit seinem Sessel zu mir und verringerte somit den Abstand zwischen uns beiden. Dann beugte er sich vor, und ich merkte, wie er meine Hände fest umklammerte.
„Das war alles gar nicht so leicht für mich. Die Sommerferien über vegetierte ich vor mich hin. Als ich im Herbst dann die Schule wechselte, fand ich neue Freunde. Thomas und Ben sind heute noch meine besten Kumpel. Tja, und … gemeinsam mit einem Therapeuten fing ich endlich an, den Selbstmord meines Vaters aufzuarbeiten. Doch unseren Kuss bekam ich nicht aus dem Kopf. Und, auch wenn die Jahre vergingen, ich konnte mir den Fehler von damals bis heute nicht verzeihen.“
Kapitel 9
Lena
Inzwischen waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage, in denen ich völlig durch den Wind war. Nachdem Julian gegangen war, hatte ich noch lange über ihn und alles, was er als Jugendlicher durchgemacht hatte, nachgedacht. An diesem Abend hatte er mich völlig überrumpelt, nicht nur durch sein unerwartetes Auftauchen in meiner Wohnung, sondern auch durch sein Geständnis.
Mit jemand anderem über die Geschichte sprechen, konnte ich nicht, denn ich wusste, Julian wollte seine schrecklichen Erlebnisse nicht jedem anvertrauen. Also bewahrte ich sein Geheimnis in meinem Herzen und dachte fast rund um die Uhr darüber nach. Langsam begann ich zu realisieren, dass er eigentlich immer der geblieben war, in den ich mich damals verguckt hatte. Der liebe, süße Junge, den ich anhimmelte und der in meinen Tagebüchern für seitenlange Schwärmereien und Herzschmerzgeschichten verantwortlich war.
Jetzt kannte ich den Grund für sein verändertes Verhalten, der aus ihm einen anderen Menschen gemacht hatte. Alleine die Vorstellung, meine Mama wäre tot, stach heftig in meinem Herzen und ließ einen dicken Kloß in meinem Hals wachsen.
Und Julian war damals noch fast ein Kind! Unvorstellbar, welche Qualen er durchgemacht hatte. Er wollte stark sein, für seine Mutter und seine Schwester zugleich. Für seine Mama, um ihr nicht noch mehr Sorgen zu machen, und für Lena, um für sie die Vaterrolle einzunehmen. Er selbst kam dabei viel zu kurz und nahm sich kaum Zeit zu trauern, bis auf die wenigen Stunden am Grab.
Hätte ich es nur damals schon gewusst … Ich hätte ihm sicher keinen Schmerz abnehmen können, aber ich wäre für ihn da gewesen. Ich hätte ihn festgehalten und ihn zu trösten versucht, in den Momenten, in denen er am Ende seiner Kräfte war.
In gewisser Weise – so schräg das jetzt klingen mochte –, fand ich es toll, dass ich der Auslöser gewesen sein sollte, der Julian wieder wachgerüttelt hatte. Doch am meisten war ich traurig und bedauerte die Tatsache, dass fünfzehn Jahre vergehen mussten. Wer weiß, wie unser Leben verlaufen wäre, hätte uns Daniel damals nicht im Spind überrascht.
An diesem Mittwoch beschloss ich, gleich nach der Arbeit noch bei Marco im Café vorbeizuschauen und mir ein Glas Weißwein zu gönnen. Und vielleicht hatte er auch ein paar Minuten Zeit zum Plaudern.
Gestern war ich so mit Arbeit eingedeckt, dass ich erst nach acht aus dem Büro gekommen war. So hatte ich Marco nicht getroffen, denn nach diesem langen Arbeitstag lag mir nichts ferner als Sport. Von Julian bekam ich abends eine SMS, in der er mir Gute Nacht wünschte. Dass ich mit einem Grinsen auf den Lippen und dem Smartphone in der Hand eingeschlafen war, blieb mein Geheimnis.
Ich beschloss, zu Fuß zum Café zu gehen, das eine knappe Viertelstunde von meiner Arbeit entfernt lag. Einige Wolken zogen über den blauen Himmel, und gemeinsam mit dem Wind ließen sie die Hitze erträglich werden. Ich freute mich auf meinen besten Freund und war schon gespannt, ob das mit Lena und ihm nun über reine Freundschaft hinausging. Ich wünschte es ihm von ganzem Herzen, denn seit der kurzen Beziehung mit Isa vor drei Jahren war er Single. Gut, er hatte bisher die meiste Zeit in seinem Café verbracht, doch inzwischen lief der Laden sehr gut und er hatte eine kompetente Vertretung, durch die es ihm möglich war, etwas kürzerzutreten.
Der Außenbereich des Café au Lait war fast zu voll; die Leute genossen ihren After-Work-Drink in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Marco fand ich in seinem Büro, über einen Stapel
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