Auf Umwegen ins Herz
mich, als hätte er nicht vielen seine Geschichte bisher anvertraut.
Kraftlos hörte ich ihn weitererzählen. „Vom Tod meines Vaters erfuhr niemand etwas von mir: weder meine Freunde noch die Betreuer. Ich verbot Lena, darüber zu reden, aus Angst, mich könnte jemand darauf ansprechen. Die ersten Wochen fürchtete ich mich davor, jemand könnte den Zeitungsartikel gelesen haben und wissen, dass es sich um meinen Vater gehandelt hatte. Glaub mir, ich hätte es nicht ertragen, mit jemandem darüber zu sprechen. Hätte jemand sein Beileid ausgesprochen, hätte ich ihn wahrscheinlich verprügelt.
Julian fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und lehnte sich zurück. „Jana, ich war nicht einmal auf dem Begräbnis. Erst eine Woche später schaffte ich es zum Grab, um mich von ihm zu verabschieden. Ich saß stundenlang davor und weinte … das erste und das letzte Mal.“
Die Trauer stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel, und am liebsten hätte ich ihn fest an mich gedrückt, um ihn zu trösten. Seine Schultern waren eingesunken, seinen Kopf ließ er müde hängen. So hatte ich ihn noch nie gesehen, und mir tat es im Herzen weh, den Schmerz in seinen Worten zu hören. Ich griff nach seiner Hand, die neben dem Glas auf dem Tisch lag, und drückte sie fest. Ich war mir nicht sicher, ob ihm diese kleine Geste recht war, aber er erwiderte meinen Druck und hob den Kopf. Dankbar sah er mir tief in die Augen. Da sah ich, dass auch in seinen Tränen glitzerten.
„Mein Leben war ab dem Zeitpunkt die totale Hölle. Alles um mich war schwarz. Ich fühlte mich nicht mehr lebendig … ich war … tot. Nur du hast kleine Sonnenstrahlen in mein Herz geschickt. Der Kuss damals im Spind kam von … ganz drinnen.“
Er zeigte auf seine Brust. Ich drückte seine Hand, die ich noch immer hielt, ganz fest. „Jana … das war keines meiner Spiele. Alles, was im Spind geschah, bevor uns Daniel fand, war echt. Ich brauchte dich so sehr, und die paar Minuten gaben mir so viel Kraft, so viel Hoffnung für mein Leben.“
„Aber warum hast du dann alles wieder zerstört? Wieso hast du so … so … bescheuert reagiert?“
Es schmerzte, dass Julian meinem Blick auswich, als er schulterzuckend antwortete. „Als wir von unseren Freunden überrascht wurden, bekam ich Panik. Ich sah meinen Ruf als Macho den Bach runter gehen, und deshalb hab ich Idiot dich aus dem Spind und aus meinem Leben gestoßen. Als ich realisierte, was ich getan hatte, war es zu spät. Du warst weg, und … das Schwarz hatte mich wieder.“
„Aber wieso hast du nicht um mich gekämpft? Wieso hast du nicht alles daran gesetzt, um doch noch einmal mit mir zu reden, mir alles zu erklären?“ Seine Antwort konnte die Vergangenheit nicht ändern, Geschehenes nicht ungeschehen machen, doch ich wollte einfach Klarheit haben.
Julian begann, meine Finger zu streicheln und meine Handflächen zu massieren. Er wirkte verlegen, verärgert … verletzt? Oh, ich konnte sein Verhalten einfach nicht richtig interpretieren.
„Jana, ich war ein Idiot und ein Feigling. Und ich fühlte mich als ‚Mann im Haus‘ verantwortlich für meine Mama und meine kleine Schwester. Ich kämpfte gegen den Strudel an, der mich und uns alle nach unten zog, und mit letzter Kraft fasste ich den Entschluss, ein für alle mal mein altes Leben hinter mir zu lassen.“
„Tut mir leid, aber … ich versteh dich nicht. Wenn ich dir Kraft gegeben hab, wieso …“ Ich schüttelte meinen Kopf, und meine Stimme war von Tränen belegt, als sie versagte.
„Jana … Nicht …! So meinte ich das nicht. Ich musste zuerst mein eigenes Leben auf die Reihe kriegen. Und … ich hatte Angst …!“ Er drückte meine Hände fester und schüttelte langsam den Kopf. „Was ich dir angetan hatte, … vor den anderen!“ Ich biss mir auf die Unterlippe, als ich die geschockten Gesichter unserer Freunde wieder vor Augen hatte. „Weißt du, Jana, ich hatte einfach panische Angst davor, dich noch einmal zu verlieren. Ich hätte es wahrscheinlich nicht gepackt, wenn du mir eine Abfuhr erteilt hättest. Und so, wie ich dich einschätze, lag ich mit meiner Entscheidung nicht falsch.“
Ich sah ihm verdutzt ins Gesicht und merkte, dass sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln formten. Ich dachte einen Moment über seine Worte nach, ehe ich eingestehen musste: „Da hast du vermutlich recht. Ich war nicht besonders gut auf dich zu sprechen …“ Jetzt konnte ich mein Grinsen
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