Auf Umwegen ins Herz
Wasser im Mund zusammen, als ich den würzigen Duft von überbackenen Schweinsmedaillons und Rosmarin-Bratkartoffeln einatmete.
Auch wenn ich meinen richtigen Vater nicht kannte und ich ehrlich gesagt auch keine allzu hohe Meinung über ihn hatte – wer lässt bitte seine geschwängerte Freundin im Stich? –, den männlichen Part in unserer kleinen Familie hatte ich immer vermisst. Doch seit Martin Teil unserer Familie geworden war, füllte er regelmäßig mein Vater-Defizit auf, mit positiven Auswirkungen auf mich.
In der Zeit vor Martin erwischte ich mich immer wieder dabei, dass ich mich bei der Partnerwahl für jemanden entschieden hatte, der mir das zu geben schien, was ich bisher in meinem Leben durch das Fehlen der Vaterfigur vermisst hatte. Klingt zwar verwirrend, doch irgendwie fühlte ich mich in einer Beziehung ständig wie das kleine Kind und blickte ehrfürchtig zu meinem Freund auf. Mein Selbstwertgefühl war darüber nicht wirklich erfreut, und, als mir mein Verhalten das erste Mal bewusst wurde, brach ich sofort die Beziehung ab und war seitdem aufmerksamer.
Mit strahlenden Augen zählte mir meine Mama während unseres Essens sämtliche Wellnesspakete auf, die sie gebucht hatte – mit der Erklärung dazu, wie lange diese jeweils dauern würden. Ich bekam also eine detaillierte Einführung in Gesichtsbehandlungen inklusive Augenlifting, Hot Stone-Massagen, Farbaromabäder und Paraffinhandpflegen. Abschließend erklärte sie mir, um wie viele Jahre verjüngt sie nach diesen vier Tagen zurückkommen würde. Ich glaubte ihr jedes einzelne Wort.
Nach dem Essen breitete Martin eine riesige Wanderkarte über dem Tisch aus und zeigte mir jede einzelne der geplanten Routen. Die beiden beugten sich angeregt über den großen Bogen Papier, der für mich einfach nur eine Landkarte war – und mit denen konnte ich schon in der Schulzeit herzlich wenig anfangen. Geografie war nie mein Fach, und, als endlich die Navigationssysteme zu erschwinglichen Preisen auf den Markt kamen, war ich ihrem Erfinder äußerst dankbar.
Meine Mutter jedoch schien genauestens zu wissen, wovon Martin sprach, und es wirkte auf mich, als wären sie in ihrer eigenen Welt gelandet. Die Blicke, die sie sich zuwarfen, waren angefüllt mit Liebe und stummen Geständnissen. Ich freute mich einmal mehr für die beiden. Ich war mir sicher, dass sie zu jenen Paaren zählten, die auch mit achtzig noch Händchen haltend durch den Park schlenderten. Und das war schließlich ein wertvolles Lebensziel, oder nicht?
Würden Julian und ich auch eines dieser Pärchen abgeben? Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Ich versuchte, mir uns beide als alte, gebrechliche Menschen mit weißem Haar und unzähligen Falten vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Ich musste an seine Küsse denken, an seine Hände. Wäre er ein alter Mann, würden sich seine Berührungen nicht anders anfühlen als jetzt?
Meine Gedanken wanderten zu der alten Frau Behring, die über meiner Mama wohnte. Wenn ich ihr die Hand schüttelte, war ihr Griff irgendwie sehr weich und zerbrechlich. Ihre Haut hatte merklich an Spannkraft verloren, und ich konnte die Falten deutlich auf meiner Handinnenfläche spüren. Ich hatte natürlich bei ihr keinen Vergleich zu der Zeit, als sie noch jung war. Könnte ja sein, dass ihr Händedruck immer schon etwas Fragiles an sich hatte. Doch dieses Bild, dieses Gefühl, das ich von ihr abgespeichert hatte, versuchte ich, auf Julian zu übertragen und mit ihm zu vermischen.
Ich war wohl etwas zu sehr in meinen Grübeleien versunken, denn schlagartig wurde mir klar, dass es still geworden war. Beide saßen nur da und musterten mich eingehend, ja, sie tuschelten sogar leise über mich, denn meine Mom lehnte sich leicht an Martin und flüsterte ihm hinter vorgehaltener Hand etwas zu, die Augen ohne Unterbrechung auf mich gerichtet.
„Was ist? Hab ich was verpasst?“
„Du bist heute irgendwie … anders. Gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest?“
Möchte ich meiner Mutter etwas erzählen? – Ja! Sollte ich es ihr erzählen? – Nein. Zumindest nicht vor ihrem Urlaub. Als wir uns das letzte Mal über Julian unterhielten, hatte ich ihn nicht unbedingt in bestem Licht dargestellt, und ich hatte die Befürchtung, dass Mama noch immer nicht besonders gut auf ihn zu sprechen war. Immerhin ging es hier um ihre Tochter, und welche Mutter möchte ihr einziges Kind in den Armen eines Mannes wissen, der sie als Jugendlicher sexuell belästigt
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