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Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Thomas
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noch einmal ernsthaft über die ganze
Sache nachdenken. Geh jetzt zurück in deine Klasse. Danke, daß Sie gekommen
sind, Mrs. Winter.“
    „Nichts zu danken, Mr. Barlowe“, sagte
Julias Mutter. „Ich werde es schon aus ihr rauskriegen, keine Sorge.“
    „Gut“, meinte Mr. Barlowe. „Dann lassen
wir die Polizei erstmal aus dem Spiel, bis Sie mit ihr geredet haben.“
    Mr. Barlowe hätte es am liebsten
gesehen, wenn er die Polizei überhaupt nicht hätte einschalten müssen. Auf gar
keinen Fall aber wollte er etwas überstürzen. Die Geschichte, die ihm die
Kinder da aufgetischt hatten, klang alles andere als wahr. Möglicherweise
hatten sie das Geld ja zu Hause gestohlen, und die Eltern würden
dahinterkommen. Ein bißchen hoffte Mr. Barlowe das.
    Doch Julia verbrachte den Tag in
Todesangst vor der Polizei. Jedesmal, wenn die Klassenzimmertür auf ging,
zuckte sie zusammen, weil sie dachte, es sei die Polizei, die sie verhören
wollte. Sie wollte unbedingt mit Nathan reden. Der war inzwischen auch wieder
in der Klasse, doch er schaute sie nicht an, sondern starrte nur auf sein Pult.
Sie wußte nicht, was er gesagt hatte oder ob er wußte, daß Mr. Barlowe die
Polizei einschalten würde.
    Die letzte Schulstunde war zu Ende, und
die Polizei war nicht gekommen. Julia war erleichtert. Sie schaute sich nach
Nathan um, doch der war wie vom Erdboden verschwunden. Jetzt kam das nächste
Verhör. Von der Mutter. Julia hatte keine Ahnung, was die Mutter mit ihr machen
würde, doch sie war sicher, daß es etwas Schreckliches war. Sie brachte es
nicht über sich, gleich nach Hause zu gehen und herauszufinden, was dieses
Schreckliche genau war. Sie schob den Augenblick der Wahrheit noch etwas hinaus
und ging in den Park.
    Nathan war bereits da. Er dachte an den
merkwürdigen Gesichtsausdruck seines Vaters. Auch Nathan hatte beschlossen, daß
er noch etwas Zeit brauche, bevor er herausfand, was daheim auf ihn wartete.
Wahrscheinlich war der Gürtel dran, aber dieses Mal vielleicht auch noch etwas
Schlimmeres. Nathan hatte daran gedacht, zu dem leerstehenden Haus zu gehen und
sich dort zu verstecken, aber er hatte nichts zu fressen für die Katzen dabei,
und mit leeren Händen wollte er ihnen nicht gegenübertreten. Deshalb war er in
den Park gekommen. Während er die verschiedenen Schaukeln ausprobierte, dachte
er angestrengt nach. Er hatte Angst. Es war nicht nur die Strafe, die er
fürchtete, sondern auch die Tatsache, daß er das Geld verlieren würde. Die
Erwachsenen würden nicht lockerlassen, soviel stand fest. Sie würden es aus ihm
herausquetschen oder herausprügeln oder ihn irgendwie überrumpeln. Das Ende
wäre jedenfalls immer dasselbe: Sie würden ihm das Geld abnehmen, und sein
Traum von dem Haus, in dem er ganz allein leben könnte, wäre ausgeträumt.
    Es gab einen Ausweg, und er wäre nicht
der erste, der ihn ging. Nathan hatte von anderen Kindern gehört, die es schon
getan hatten. Aber es war radikal, so ziemlich das Drastischste, was man sich
vorstellen konnte, und das jagte ihm Angst ein. Und was wäre mit seiner Mutter?
Sie würde es nicht gutheißen. Nathan mochte seine Mutter lieber als den Vater,
weil sie fast immer freundlich zu ihm war. Wenn sie Zeit dazu hatte. Wenn sie
nicht gerade kochte oder Wäsche wusch oder bügelte oder arbeiten war...
    Gerade als Nathan mit seinen Gedanken
bei der Mutter war, tauchte Julia im Park auf. Seine erste Reaktion auf die
ungelenke, mit Armen und Beinen schlenkernde Gestalt waren Wut und Ablehnung.
Dumme Ziege! Sie allein war schuld daran, daß man sie erwischt hatte. Der
zweite Gedanke, als sie ihn entdeckt hatte und näherkam, war allerdings der,
daß sie eventuell doch von Nutzen sein konnte.
    Julia begann zu heulen — mit lauten,
heftigen Schluchzern, die den gesamten Körper schüttelten und sich bei einem so
großen Mädchen reichlich lächerlich anhörten. „Mr. Barlowe geht zur Polizei“,
jaulte sie über den halben Spielplatz hinweg.
    „Halt die Klappe!“ fauchte Nathan. „Oder
willst du, daß gleich alle Bescheid wissen?“
    Und tatsächlich hatten sich ihnen schon
ein paar Köpfe neugierig zugewandt. Julia trat dicht zu Nathan und wiederholte
in einem heiseren Flüsterton: „Mr. Barlowe geht zur Polizei.“ Die Nachricht
versetzte Nathan in neue Ängste. Ihre Situation erhielt dadurch eine ganz neue
Dimension voll finsterer Möglichkeiten und unbekannter Schrecken.
    „Warum will er das machen?“
    „Er hat gesagt, wir müssen das Geld

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