Auf zehn verschlungenen Wegen einen Lord erlegen
einfache Wirtsfrau, nicht einmal kleiner Landadel. Sie ist eine echte Aristokratin! Sie ist adelig hoch zwei! Wir sollten sie dorthin zurückschicken, wo sie herkommt: zu ihrer hochwohlgeborenen Familie.“
„Eine hochwohlgeborene Familie ist auch nicht immer das Gelbe vom Ei, Kate. Ich weiß, wovon ich spreche.“ Isabel dachte an die dunklen Schatten unter den Augen des Mädchens, an dessen fahle Wangen, die mehr über die Not der jungen Frau verrieten als alle Worte.
Dieses Mädchen war verzweifelt und mutterseelenallein auf der Welt.
Das war Isabel Grund genug.
„Ich habe noch kein einziges Mädchen abgewiesen und werde ganz gewiss nicht jetzt damit anfangen. Sie kann so lange bleiben, wie sie möchte. Sie wird hier arbeiten. James braucht eine neue Gouvernante, und ich könnte mir vorstellen, dass sie für diese Aufgabe gut geeignet ist.“
Kate schnaubte. „Hast du sie dir mal angeschaut? Die hat in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet.“
Isabel lächelte. „Ebenso wenig wie du, als du hierher kamst. Und mittlerweile könntest du jedem Stallmeister in London den Rang ablaufen.“
Kate strich sich über die Breeches und sah beiseite. „Die Schwester eines Herzogs, pah“, brummelte sie.
Isabel sah sich die Schar Frauen an, die sich um sie versammelt hatte: Jane, ihre Butlerin, die das Haus mit der leichten Hand eines Mannes führte, der jahrelang dafür ausgebildet worden war; Gwen, ihre Köchin, die es mit den besten Köchen Londons aufnehmen könnte und mächtig stolz darauf war; Kate, ihre Stallmeisterin, die ein so gutes Händchen mit Pferden hatte, dass jeder Jockey in Ascot vor Neid erblassen würde. Eine jede von ihnen war unter ganz ähnlichen Umständen, aus ganz ähnlichen Gründen nach Townsend Park gekommen wie Lady Georgiana. Eine jede hatte hier Zuflucht gefunden und eine neue Chance erhalten.
Und sie hatten ihr vertraut, hatten geglaubt, dass sie jeder Herausforderung gewachsen wäre.
Wenn sie nur wüssten .
Sie hatte genauso viel Angst wie sie, war ebenso voller Zweifel.
Doch sie durfte nicht verzagen und bemühte sich um Zuversicht. „Sie braucht uns. Sie braucht Minerva House. Und Minerva House wird auch dieser Herausforderung gewachsen sein.“
Das hoffe ich zumindest .
Isabel blinzelte und fuhr auf ihrem Stuhl hoch.
Ihre Cousine Lara stand vor dem Schreibtisch des Earls. „Guten Morgen.“
Entgeistert sah Isabel zum Fenster, wo ein strahlend blauer Himmel verkündete, dass es längst Tag war. „Ich bin eingeschlafen“, sagte sie zu Lara.
„Das sehe ich. Wäre dein Bett nicht gemütlicher gewesen?“
Isabel schüttelte den Kopf. Nacken und Schultern waren so verspannt, dass sie schmerzten. „Zu viel zu tun.“ Sie strich sich ein Stück Papier von der Wange, das in der Nacht dort hängen geblieben sein musste.
Lara stellte eine Teetasse auf dem Schreibtisch ab und nahm Isabel gegenüber Platz. „Was könnte so wichtig sein, dass du deswegen deinen Nachtschlaf opferst?“ Irritiert hielt sie inne. „Du hast Tinte im Gesicht.“
Isabel rubbelte mit der Hand über ihre Wange und warf einen Blick auf das Papier, das sie soeben von dort entfernt hatte. Es war die Liste, die sie vergangene Nacht erstellt hatte.
Eine sehr umfängliche Liste.
Ein Blick darauf genügte, dass sich ihr der Magen umdrehte.
Sie strich sich eine kastanienrote Locke aus der Stirn und steckte sie dort fest, wo sie hingehörte – in einen straffen, praktischen Haarknoten. Schuldgefühlte regten sich, wenn sie daran dachte, was sie letzte Nacht alles hatte erledigen wollen, nach einem kurzen Nickerchen.
Einen Plan hatte sie machen wollen, wie sich die Sicherheit der Mädchen in Zukunft gewährleisten ließe. Sie hatte dem Anwalt ihres Vaters schreiben und sich vergewissern wollen, dass tatsächlich kein Geld für James’ Ausbildung zurückgelegt worden war. Sie hätte den Makler in Dunscroft anschreiben und mit der Suche nach einem neuen Haus beginnen müssen. Und nicht zuletzt hatte sie sich der Lektüre von Der praktische Dachdecker widmen wollen, das ihr bald zum unerlässlichen Handbuch werden dürfte.
Nichts davon hatte sie getan. Stattdessen hatte sie geschlafen.
„Du solltest dich ausruhen.“
„Das habe ich zur Genüge getan.“ Isabel begann die Unterlagen auf dem Schreibtisch zu sortieren, wobei sie einen Stapel Briefe bemerkte, der am Abend zuvor noch nicht da gewesen war. Sie nahm ihn und warf einen kurzen Blick auf das Damenjournal, das darunter lag.
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