Auf zehn verschlungenen Wegen einen Lord erlegen
„Exklusiv! Londons lukrativste Lords!“, verkündete reißerisch das Titelblatt. Isabel verdrehte die Augen und legte die Briefe zu den anderen.
„Die sind heute früh mit der Post gekommen. Bevor du sie aufmachst …“
Den Brieföffner in der Hand, sah Isabel ihre Cousine Lara an. „Ja?“
„… müssen wir wegen James reden.“
„Was hat er nun schon wieder ausgefressen?“
„Er drückt sich vor seinen Schulstunden.“
„Das ist ja nichts Neues. Ich werde mit ihm reden. Hat er seine neue Gouvernante überhaupt schon zu Gesicht bekommen?“
„In gewisser Weise.“
Das ließ Isabel aufhorchen. „Was soll das heißen, Lara?“
„Kate hat ihn dabei erwischt, wie er sie beim Bad beobachtet hat.“
Isabel lehnte sich vor. „Ich gehe davon aus, dass du nicht Kate meinst, die er beim Bad beobachtet hat.“
Lara lachte. „Nein, natürlich nicht. Stell dir das nur vor – sie hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen!“
„Nun, das werde ich für sie übernehmen. Herrje, er ist jetzt ein Earl! Da soll er sich gefälligst auch wie einer benehmen! Was kann nur in ihn gefahren …“
„Er mag ein Earl sein, Isabel, aber zunächst einmal ist er ein nicht mehr ganz so kleiner Junge. Meinst du nicht, dass eine gewisse Neugierde ganz natürlich ist?“
„Er ist in einem Haus voller Frauen aufgewachsen. Ich wollte meinen, dass er ihnen gegenüber völlig gleichgültig ist.“
„Wie es aussieht, wohl nicht. Er bräuchte jemanden, mit dem er über solche Dinge sprechen kann.“
„Er kann mit mir darüber reden.“
Lara sah Isabel ungläubig an. „Isabel …“
„Ja, warum denn nicht?“
„Du bist ihm eine wunderbare Schwester, gewiss. Aber derlei Dinge kann er nicht mit dir besprechen.“
Isabel schwieg und dachte über die Worte ihrer Cousine nach. Natürlich, sie hatte recht. James war zehn und hatte niemanden, mit dem er über das reden konnte, was kleine Jungen bewegte. Er brauchte einen Mann, mit dem er über solche … Männer angelegenheiten sprechen konnte. Ein Grund mehr, warum er endlich zur Schule musste.
Sie seufzte. „Ich werde mir etwas ausdenken, damit James auf eine Schule kommt. Gleich heute will ich Vaters Anwalt schreiben, ob es nicht Mittel und Wege gibt – wenngleich wir uns wegen der Mittel wenig Hoffnung zu machen brauchen.“ Ein Gedanke kam ihr. „Vielleicht trifft ja bald sein Vormund ein, den Vater für ihn bestimmt hat, und kann mit James ein Gespräch unter Männern führen.“
Seit der Kunde vom Ableben des Earls hatten sie darauf gewartet, dass Oliver, Lord Densmore, seinen Besuch ankündigte. Eine Woche war seitdem vergangen, doch noch immer hatten sie kein Wort des mysteriösen Densmore gehört. Insgeheim atmete Isabel jeden Tag, der ihr keine Nachricht von ihm brachte, in stiller Erleichterung auf.
Dennoch hing die Verfügung ihres Vaters wie ein Damoklesschwert über ihnen, denn es war anzunehmen, dass der Lotterlord ihnen mit Lord Densmore einen Treuhänder bestimmt hatte, auf den sie alle gern verzichten konnten.
„Da wäre noch etwas.“
Natürlich. Es war immer noch etwas.
Isabel wappnete sich. „Wieder wegen James?“
„Nein, diesmal geht es um dich.“ Lara beugte sich vor. „Ich weiß, weshalb du hier am Schreibtisch eingeschlafen bist, statt zu Bett zu gehen. Weil du dir Sorgen um unsere Zukunft machst – um unsere Finanzen, um James, um Minerva House.“ Als Isabel den Kopf schütteln wollte, fuhr sie rasch fort: „Bitte beleidige mich nicht, indem du so tust, als wäre nichts. Ich kenne dich schon dein ganzes Leben, lebe seit sechs Jahren mit dir unter einem Dach. Ich weiß , wann du dir Sorgen machst.“
Isabel wollte etwas sagen, ließ es dann jedoch bleiben. Lara hatte natürlich recht. Isabel machte sich Sorgen. Sie sorgte sich darum, dass sie James wegen ihrer bedrängten Lage nicht zur Schule schicken konnte, dass er nicht würde lernen können, was ein Earl zu lernen hatte und was er brauchte, um dem von ihrem Vater ruinierten Titel wieder einen Hauch von Noblesse zu geben. Sie machte sich Sorgen, dass James’ neuer Vormund sich vor seiner Verpflichtung drücken würde – vor allem vor der finanziellen. Aber mindestens ebenso groß war ihre Sorge, dass Densmore eines Tages hier auftauchen und Minerva House ein Ende machen könnte, dass er die Frauen, für die sie so viel getan hatte, einfach vor die Tür setzen würde.
Die Frauen brauchten sie.
Zudem war das Dach undicht, durch den Zaun an der westlichen Gemarkung
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